Heft 895, Dezember 2023

Der Tod der Anderen

von Tatjana Noemi Tömmel
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»Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?«

Mascha Kaléko, Memento

Philosophieren als Sterbenlernen

Dass die Philosophie ein Faible für den Tod hat, ist kein Geheimnis. Als Zenon fragte, wie er am besten leben könne, soll das Orakel von Delphi geantwortet haben: »Nimm die Farbe der Toten an.«1 Sokrates als Urbild des Philosophen beweist seine geistige Überlegenheit, indem er sein Todesurteil gelassen hinnimmt. Damit verkörpert er, was Michel de Montaigne später auf den Begriff bringt: Philosophieren heißt Sterben lernen.2 In seinem Versuch über die Sterblichkeit beschreibt der Erfinder des Essays die Kontemplation als »Einübung in den Tod«. Auch Friedrich Nietzsche war von diesem Sterbenlernen umgetrieben, ein Sterbenlernen, das keineswegs nur metaphorisch gemeint war – etwa als Absterben von den irdischen Phänomenen zugunsten einer geistigen Schau –, sondern das den wirklichen, den leiblichen Tod meint.3 Für Albert Camus schließlich wird der eigene Tod zur Fundamentalfrage: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.«4

Sieht man vom Suizid einmal ab – wie lernt man eigentlich sterben? Wenn man den Schilderungen Montaignes Glauben schenken darf, hat er sich geradezu obsessiv mit dem eigenen Tod beschäftigt. Angesichts der Allgegenwärtigkeit und Unentrinnbarkeit der Sterblichkeit rät er dazu, Umgang mit ihr zu pflegen, um sie ihrer Unheimlichkeit zu berauben. Durch diese ständige Besinnung auf die condition humaine der Sterblichkeit soll der Mensch lernen, den Tod als Befreiung zu begreifen: »Das Leben hat keine Übel mehr für den, der recht begriffen hat, daß der Verlust des Lebens kein Übel ist.« Dergestalt »gestiefelt und gespornt zur Abreise gerüstet«, empfiehlt Montaigne, dass wir es im Augenblick des Todes nur noch mit uns selbst zu tun haben sollten: »Ich löse mich von allem […] außer von mir selbst.« Während es vielen schwer fiele, von geliebten Menschen Abschied zu nehmen, könne er selbst aufbrechen »ohne irgendeiner Sache nachzutrauern«. Haben Leben und Sterben durch das Lösen aller Bindungen erst einmal ihre Bedeutung verloren, ist alles »einerlei«, soll es sich offenbar besser leben lassen. Nicht mehr und nicht weniger ist also erforderlich, als die Welt und andere Menschen für nichtig zu achten.

Seltsam ist, dass sich dieser praemeditatio mortis, für die insbesondere die Stoa bekannt ist, immer wieder der Gedanke beigesellt, der Tod sei eigentlich besser als das Leben. So lässt der zu Tode verurteilte Sokrates seine Freunde wissen, dass jeder Philosoph gerne sterben wolle.5 Nietzsche behauptet, dass viele zu spät sterben, Seneca gar, dass niemand zu früh sterbe.6 Woher kommt diese Vorliebe der Philosophie für den Tod, teilweise sogar für die Selbsttötung, diesen angeblich freien Tod?

Bei Platon steht hinter der Gelassenheit zum Tode die Annahme, dass der Leib ein Gefängnis sei, das man abstreifen müsse, damit die Seele die Wahrheit rein erfassen kann. Erst nach dem Tode ist deshalb wahre Erkenntnis möglich. Noch bei Martin Heidegger hat das »Vorlaufen zum Tode« eine vorwiegend hermeneutische Funktion – wir verstehen das Ganze unseres Lebens nur vom Ende her. Der moderne »Bilanzsuizid« dagegen flieht nicht den Leib als solchen, sondern will nur die Souveränität über ihn bis zuletzt behaupten. »Sollte ich entweder die Grausamkeit einer Krankheit oder die eines Menschen erwarten, wenn ich durch die Mitte abtreten und das Missgeschick vertreiben kann?«, fragt Nietzsche. Damit versucht er dem Tod zu nehmen, was ihn am meisten ausmacht: dass er einem widerfährt.

Der Tod der Anderen in der Philosophie

Während man sich im Falle des eigenen Todes noch damit trösten kann, dass er nicht ist, solange man selbst ist, und man selbst nicht mehr, wenn er ist (Epikur), verhält sich dies mit dem Tod der Anderen völlig anders: In voller Lebendigkeit erfahren wir deren Tod. Doch gerade hier, am Punkt des größten Schmerzes, zieht sich die philosophische Reflexion zurück. Während die Philosophie seit jeher dem eigenen Tod eine überragende Bedeutung beigemessen hat, spielt der Tod der Anderen kaum eine Rolle.

So bleibt zum Beispiel in Heideggers (auf die Eigentlichkeit fixierter) Daseinsanalyse die »›objektive‹ Gegebenheit des Todes« der Anderen ohne Gewicht. Heidegger verwirft die Erfahrung des Todes der Anderen, weil an ihr gerade nicht die Unvertretbarkeit und »Jemeinigkeit« des Todes sichtbar werde: »Der Tod ist, sofern er ›ist‹, wesensmäßig je der meine. Und zwar bedeutet er eine eigentümliche Seinsmöglichkeit, darin es um das Sein des je eigenen Daseins schlechthin geht.«7

Zwar mag Heidegger in Bezug auf sein eigenes philosophisches Projekt die Anderen zu Recht ausklammern. Dennoch berührt das Phänomen der »Unvertretbarkeit«, das für ihn ausschließlich mit dem eigenen Tod verknüpft ist, nicht nur das Ich, sondern gerade auch das Du. Dass der andere Mensch unvertretbar ist, erfahre ich eindrücklich und schmerzhaft, wenn er nicht mehr ist. Weil Heidegger das nicht sieht, klingt es etwas steif, wenn er schreibt: »Im trauernd-gedenkenden Verweilen bei [dem Toten] sind die Hinterbliebenen mit ihm, in einem Modus der ehrenden Fürsorge.«

Kehren wir noch einmal zurück zu der Platonischen Urszene: Die Freunde finden Sokrates im Kerker, zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt, Ehefrau Xanthippe an seiner Seite, die, »heulend und sich übel gebärdend«, Sokrates’ kleinen Sohn auf dem Arm hält. Diese für den Dialog dramaturgisch wichtige Anti-Philosophin verkörpert geradezu die »Torheit des Leibes« mit ihrem Wehgeschrei und ihrem Säugling auf dem Arm. Ihre Klagen um den zu Tode verurteilten Gatten werden als trivial und lästig abgetan; Sokrates bittet einen Freund, sie hinaus zu führen – ohne selbst auch nur das Wort an sie zu wenden. Was aber wäre, wenn Xanthippe, Paradigma der zänkischen Gattin, in ihrer Trauer gerade etwas Wesentliches verstanden hätte, das sich Sokrates selbst notorisch entzieht, nämlich: den Wert des einzelnen Menschen?

Warum empfindet Sokrates keinen Kummer darüber, dass er Freunde, Frau und Kinder verlassen muss? Wird er geliebt, ohne selbst jemals zu lieben, wie der junge Alkibiades ihm unterstellt?8 Noch bevor er auf die Unsterblichkeit der Seele zu sprechen kommt, behauptet Sokrates, es sei besser zu sterben als zu leben, da er nach dem Tod zu anderen Göttern komme, die auch weise und gut seien, und »zu verstorbenen Menschen, welche besser sind als die hiesigen«. Selbst wenn man, wie Sokrates, an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, bleibt seine Haltung doch ein Affront gegen die Freunde, die offenbar nur als Typen von Interesse sind und nicht um ihrer selbst willen gemocht werden. Wer würde sich nicht zu Recht beschweren, wenn man zum Abschied sagte: Ich werde dich nicht vermissen, denn ich gehe davon aus, in hervorragender Gesellschaft zu sein?

Sehen wir von dem notorisch unbedürftigen Sokrates einmal ab, ist es nicht so, als wäre Philosophen der Kummer gänzlich fremd geblieben: Augustinus zum Beispiel schildert in den Bekenntnissen »eine Freundschaft so süß wie sonst nichts auf Erden«, die durch den jähen Tod des geliebten Freundes beendet wird. Durch die Trauer, schreibt Augustinus, wird er sich selbst zur Frage. Als er einsieht, wie schmerzvoll es ist, den Geliebten zu verlieren, wendet er sich Gott als dem ewigen, unwandelbaren Sein zu, denn »elend ist jede Seele, die von der Liebe zu den vergänglichen Dingen gefesselt und dann zerrissen wird, wenn sie sie verliert«.9 Wer dagegen Gott liebt, ist »selig«, denn er »allein verliert keinen, der ihm lieb ist«.

Augustinus’ Motiv, Gott zu lieben, ist also der Versuch, sich den unerträglichen Schmerzen des Verlusts zu entziehen, die eigene Existenz gleichsam abzupolstern gegen die Gefahren der irdischen Liebe. Sein Kummer über den Tod des Freundes, der Anlass hätte sein können zu einer »geistigen Aufhellung der Phänomene, die dem Herzen unmittelbar gewiß sind« (Camus), wird in der Folge verleugnet, indem die Quelle des Leidens trockengelegt wird. Wie Sokrates findet auch Augustinus Gründe, warum es keinen Grund gibt, um Menschen zu trauern.

In einer Reflexion aus der Zeit des Ersten Weltkriegs berichtet Freud von einem bekannten Dichter, der keine Freude an der Schönheit der Welt empfinden könne, weil sie vergänglich sei. Freud versucht, den Grund dieses Weltüberdrusses zu verstehen, und kommt zu folgendem Schluss: Da die Seele vor allem Schmerzlichen instinktiv zurückweiche, sich also gegen die Trauer auflehne, werden die vom Verlust bedrohten Objekte entweder entwertet oder ihre Vergänglichkeit geleugnet.10

Beide Reaktionen auf das Problem der Vergänglichkeit scheinen mir die verbreitete philosophische Haltung zum Tod zu bestimmen: Entweder wird der Tod zum bloßen Schein erklärt oder der Wert der Menschen wird relativiert, um deren Verlust ertragen zu können. So liegt auch der berühmte »Trost der Philosophie«, die Boethius in Frauengestalt im Gefängnis besucht, darin, die Wertlosigkeit aller irdischen Güter und das mit ihnen verbundene Glück als Illusion zu erweisen. Glückselig ist nur, wer sich aller Bedürfnisse und Gefühle entledigt hat und in völliger Selbstgenügsamkeit lebt.11

Viel Philosophie, aber kaum Trost findet darum der niederländische Philosoph Jean-Pierre Wils bei Boethius.12 Beispiele für die Trostlosigkeit der Philosophie bietet Wils’ aufschlussreiches Buch dagegen in Hülle und Fülle: Da ist zum Beispiel Seneca, der in seiner Trostschrift eine Frau namens Marcia zurechtweist, die gerade Vater und Sohn verloren hat. Weil die Trauer um ein unabwendbares Schicksal überflüssig und unvernünftig sei, solle sie gefälligst »Bescheidenheit im Schmerz« üben. Auch Plutarch schreibt an seine Frau Timoxena eine consolatio, als er vom Tod der gemeinsamen Tochter, eines erst zweijährigen Mädchens, erfährt: Ihre Haltung als Mutter dürfe nicht »von sinnloser und widerwärtiger Trauer«, »wild und rasend« sein, denn Hadern mit dem Schicksal »ist nicht unser Stil«.13

Mit Argumenten und Ermahnungen den Trauernden zu begegnen, zeugt freilich weder von Lebensklugheit noch von Charakter, denn »Trostgründe« kann es angesichts des Verlusts kaum geben. Erschüttert von der »Herzenskälte« solchen Denkens, bemerkt Wils mit Georg Simmel, wie erstaunlich wenig von den Schmerzen der Menschheit in ihre Philosophie übergegangen sei.14 Wenn aber in diesem bunten Jammertal nichts beständig und »der Verlust notwendig« ist,15 wohin kann sich dann das »trostsuchende Wesen« (Simmel) Mensch wenden?

Das merkwürdige Erlebnis des Trostes

Wenn wir nach Worten suchen, die wir bei uns tragen können, wenn wir Verlusten ausgesetzt sind, spendet die Philosophie selten Trost, denn wer trösten will, muss zuallererst die Wirklichkeit des Schmer-zes anerkennen. Wer trösten will, muss bereit sein, das Leid des Anderen auszuhalten im vollen Bewusstsein, es nicht betäuben zu können. Nicht fliehen, sondern beistehen ist geboten. Wahr- und wirklich genommen in seiner ganzen Schrecklichkeit haben den Tod der Anderen vor allem die Künste. Hier werden die Trauer um die Toten und die unerfüllbare Sehnsucht nach ihnen greifbar, fühlbar: »He was my North, my South, my East and West, | My working week and my Sunday rest, | My noon, my midnight, my talk, my song; | I thought that love would last for ever: I was wrong. || The stars are not wanted now: put out every one; | Pack up the moon and dismantle the sun; | Pour away the ocean and sweep up the wood; | For nothing now can ever come to any good.«16

Seltsamerweise vergrößert die ästhetische Erfahrung von Vergänglichkeit und Verlust nicht die Trauer, sondern die bloße Mitteilung scheint der Anteilnahme so verwandt, dass sie den Schmerz erträglicher macht. Der Trost, schreibt Simmel, sei ein merkwürdiges Erlebnis: Er lasse zwar das Leiden bestehen, hebe aber das »Leiden am Leiden« auf. Der Trost kann also das Übel nicht ungeschehen machen, er versucht es nicht einmal. Aber er lindert dessen Wirkung auf die »tiefst[e] Instanz der Seele«. In Wils’ Worten beendet der Trost deswegen nicht das Leiden, sondern »ummantelt« den Schmerz. Wenn der Anblick von Passionsdarstellungen trostvoll ist, dann wohl deswegen, weil sie für die Betrachtenden die Gelegenheit geben, Solidarität im Schmerz zu empfinden. So nimmt die Kunst die Trauernden unter ihren Schutzmantel.

Eine Phänomenologie des Verlusts

Wie aber ist es, jemanden zu verlieren? Was geschieht denn, wenn die anderen sterben, vor allem die geliebten Anderen? Derselbe Montaigne, der in dem einen Essay empfiehlt, alle Bindungen zu lösen, beschreibt in einem anderen die unergründliche Eigensinnigkeit der Liebe zu seinem Freund Etienne de la Boétie, der sich durch nichts und niemanden ersetzen lasse: »weil er er war, weil ich ich war«. All die Freuden, die sie geteilt hatten, erinnern ihn jetzt an den Verlust: »Es gab keine Handlung und keinen Gedanken, wo er mir nicht fehlte.« Obwohl sein Leben mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet ist, erscheint es ihm nach dessen Tod »nichts als Rauch, nichts als freudlose, dunkle Nacht«. Auch Augustinus, der großartige Phänomenologe des Verlusts, beschreibt diese Allgegenwart der Abwesenheit: »Wohin ich auch blickte, überall begegnete mir der Tod […] Woran ich einst mit ihm gemeinsam mich gefreut, ohne ihn verkehrte es sich zur Folterqual. Überall suchten ihn meine Augen und fanden ihn nicht.«

Wer liebt, schreibt Karl Jaspers, bejahe das Sein des Geliebten grundlos und unbedingt: Er will, dass es sei.17 Weil die Liebe das Leben des Geliebten will, glaubt sie, stärker als der Tod zu sein. Augustinus: »Ich wunderte mich, dass andere sterbliche Menschen noch lebten, da doch der eine gestorben war, den ich geliebt hatte, als könne er nie sterben.« Wir können deswegen nicht über den Tod der Anderen nachdenken, ohne über die Liebe zu ihnen zu sprechen. Aber wir können auch nicht lieben, ohne den Tod der Geliebten zu fürchten: »Ruin hath taught me thus to ruminate | That Time will come and take my love away. | This thought is as a death, which cannot choose | But weep to have that which it fears to lose.«18 Shakespeares Verse weichen der Gewissheit, dass die Zeit den Geliebten rauben wird, nicht aus. Die Angst vor dem Verlust wird nicht geflohen, sondern eingestanden. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Verlust, kein Sichhinausreflektieren aus der schlichten Tatsache, dass das Kostbarste vergänglich ist wie Gras.

Aber die Hinfälligkeit aller weltlichen Dinge und die Vergänglichkeit des Menschen machen sie nicht weniger wertvoll, im Gegenteil. Denn im Verlust scheint die »Sakralität der Person« (Hans Joas) auf wie sonst nur in den Augenblicken größter Liebe. Wenn die Liebe im Abschied noch einmal mit unerwarteter Heftigkeit aufglimmt, scheint der Tote wie der Inbegriff des Lebens selbst. Zugleich tritt mit dem Tod eine seltsame Verdichtung ein, als würde uns schlagartig deutlich, wer dieser Mensch gewesen ist. Und mit dieser Wesensschau empfinden wir, was der Mensch war – ein Wert ohne Maß. Aus diesem Grund scheint Dankbarkeit die einzige Haltung zu sein, die den Wert der Anderen nicht mindern muss, um den Verlust zu ertragen: die Dankbarkeit für das unverdiente Geschenk, diesen Menschen überhaupt gekannt zu haben. Vielleicht können wir uns dann »an der Nähe freuen, die im Abschied entsteht«.19

Wie Mascha Kaléko bin ich lange der Auffassung gewesen, dass der eigene Tod eigentlich irrelevant sei: »Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang, | Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. | Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? || Allein im Nebel tast ich todentlang | Und laß mich willig in das Dunkel treiben. | Das Gehen schmerzt mich halb so wie das Bleiben. || Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr; | – Und die es trugen, mögen mir vergeben. | Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, | Doch mit dem Tod der andern muß man leben.«20

Geneigt, es aus diesem Grund mit der preußischen Nüchternheit Hannah Arendts zu halten – »Der Tod ist der Preis, den wir für das Leben, das Gelebt-haben, zahlen. Diesen Preis nicht zahlen wollen, ist schofel« –,21 habe ich nicht gesehen, dass der eigene Tod ja auch der Tod einer Anderen ist, für die Anderen nämlich, wie mir der Philosoph Karsten Harries in einem persönlichen Gespräch zu Recht entgegenhielt. Der Tod ist also gerade nicht »unbezüglich«, wie Heidegger meint.

Niemand hat diese Tatsache erschütternder dargestellt als W. Somerset Maugham. Sein Roman Der Menschen Hörigkeit beginnt mit der Schilderung einer sterbenden Mutter, die mit schwindenden Kräften ihren Sohn liebkost, wohl-wissend, dass es zum letzten Mal sein wird.22 Würde sie, vor die Wahl gestellt, mit Montaigne sagen: »Ich löse mich von allem, außer von mir selbst«? Ist dieses Selbst nicht untrennbar verwoben mit dem schlafenden Kind in ihrem Arm? Ist dieses Band zwischen dem Kind und ihr nicht das Leben überhaupt? Wie könnte diese Mutter sagen, dass der Verlust des Lebens kein Übel ist? In ihrem Flehen (»Ach, nehmen Sie ihn mir noch nicht weg«) ist nicht die Angst vor dem eigenen Tod, sondern der unendliche Schmerz darüber, mit dem Leben auch das Geliebteste zu lassen, schlimmer, alleine zu lassen, im Stich zu lassen.

Camus’ Grundfrage, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, stellt sich ganz anders dar, wenn man sich nicht als Atom, sondern als liebend-geliebter Teil einer Gemeinschaft begreift. In Shakespeares Sonnet LXVI zum Beispiel steigert sich die Verzweiflung über den Irrsinn der Menschen bis zur Lebensmüdigkeit: »Tired with all these, for restful death I cry«. Dem Überdruss kann nur die Gegenkraft der Liebe Einhalt gebieten, denn alles was auf Erden hält, ist der geliebte Mensch: »Tired with all these, from these would I be gone, | Save that, to die, I leave my love alone.« Die Geliebten nicht alleine, nicht im Stich zu lassen, ist für die auf Sand bauende Liebe eine raison d’être und eine Antwort auf Camus’ Grundfrage. Und vielleicht führt sie sogar zu der Einsicht, auch den Tod der unbekannten Anderen als wirklich zu nehmen.

Die Alternative zum Leiden

Wenn Liebe aber verlangt, sich nicht aus Selbstschutz in die Unbedürftigkeit zurückzuziehen, sondern sein Lebensglück an jemanden zu binden, der einem jeden Augenblick genommen werden kann – bedeutet Liebe dann nicht unweigerlich den größten Schmerz? Kann also doch nur glücklich sein, wer hat, was kein Schicksalssturm ihm rauben kann?23

Es gibt nur wenige Philosophen, die bereit waren, den Preis zu entrichten, den es unweigerlich kostet, andere Menschen zu lieben. Unter ihnen ist C. S. Lewis: »There is no safe investment. To love at all is to be vulnerable. Love anything, and your heart will certainly be wrung and possibly be broken. If you want to make sure of keeping it intact, you must give your heart to no one, not even to an animal. Wrap it carefully round with hobbies and little luxuries; avoid all entanglements; lock it up safe in the casket or coffin of your selfishness. But in that casket – safe, dark, motionless, airless – it will change. It will not be broken; it will become unbreakable, impenetrable, irredeemable. The alternative to tragedy, or at least to the risk of tragedy, is damnation. The only place outside Heaven where you can be perfectly safe from all the dangers and perturbations of love is Hell.«24

So unerträglich schon die Vorstellung und erst recht die Wirklichkeit des Verlusts ist: Die Alternative zum Leiden ist die vollendete Sinnlosigkeit eines Lebens, das die Kostbarkeit der Anderen nie erfährt.

Anmerkungen

1

Diogenes Laertius zit. n. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. München: Piper 2006.

2

Michel de Montaigne, Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt: Eichborn 1998.

3

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe, Bd. 4. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München: dtv 1999.

4

Albert Camus, Eine absurde Betrachtung. In: Ders., Der Mythos des Sisyphos. Reinbek: Rowohlt 2005.

5

Platon, Phaidon. Stuttgart: Reclam 1987.

6

Lucius Annaeus Seneca, Trostschrift an Marcia. In: Ders., Philosophische Schriften. Bd. 1. Darmstadt: WBG 1980.

7

Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2001.

8

Platon, Das Gastmahl. Stuttgart: Reclam 1979.

9

Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Eingeleitet u. übertragen v. Wilhelm Thieme. Lausanne: Edition Rencontre 1970.

10

Sigmund Freud, Vergänglichkeit. In: Ders., Gesammelte Werke. Bd. X. Frankfurt: Fischer 1967.

11

Boethius, Trost der Philosophie. Hrsg. v. Kurt Flasch. München: dtv 2005.

12

Jean-Pierre Wils, Warum wir Trost brauchen. Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses. Stuttgart: Hirzel 2023.

13

Plutarch, Trostbrief an Timoxena, seine Frau (Consolatio ad uxorem). In: Lebensklugheit und Charakter. Aus den »Moralia«. Hrsg. v. Rudolf Schottlaender, Leipzig: Dieterich 1983.

14

Georg Simmel, Fragmente und Aufsätze. Hildesheim: Georg Olms 2013.

15

Jakob Michael Reinhold Lenz, Willkommen kleine Bürgerin. In: Ders., Gedichte. Berlin 1891.

16

H. Auden, Stop all the clocks. In: Ders., Anhalten alle Uhren. Gedichte. Englisch /Deutsch. München: Pendo 2002.

17

Karl Jaspers, Philosophie. Bd. 2. Berlin: Springer 1956.

18

William Shakespeare, Sonnet LXIV. In: Ders., Complete Sonnets. New York: Dover Publications 1991.

19

Joachim Hake, Abschiede und Anfänge. Notizen. Sankt Ottilien: Eos 2015.

20

Mascha Kaléko, Memento. In: Dies., Verse für Zeitgenossen [1945]. Reinbek: Rowohlt 2013.

21

Hannah Arendt, Denktagebuch. München: Piper 2002.

22

Somerset Maugham, Der Menschen Hörigkeit. Zürich: Diogenes 1986.

23

Aurelius Augustinus, De beata vita. Über das Glück. Stuttgart: Reclam 2006.

24

»Zu lieben bedeutet, verletzlich zu sein. Es gibt da keine sichere Investition. Wenn du irgendetwas liebst, wird dein Herz mit Sicherheit ausgepresst und womöglich sogar gebrochen werden. Wenn du sicher sein willst, dass es intakt bleibt, darfst du es niemandem schenken, nicht einmal einem Tier. Umgib es sorgfältig mit Hobbys und kleinem Luxus; vermeide alle Verstrickungen; schließe es sicher in der Schatulle oder dem Sarg deines Egoismus ein. In dieser Schatulle aber – sicher, dunkel, bewegungslos, luftlos – wird es sich verändern. Es wird nicht zerbrechen; es wird unzerbrechlich, undurchdringlich, unansprechbar werden. Die Alternative zur Tragödie, oder zumindest zum Risiko der Tragödie, ist die Verdammnis. Der einzige Ort außerhalb des Himmels, an dem man vor allen Gefahren und Störungen der Liebe vollkommen sicher sein kann, ist die Hölle.« C. S. Lewis, The Four Loves. Glasgow: Collins 1977. Ich danke Judith Wolfe, Theologieprofessorin in St Andrews, dass sie mich auf dieses Zitat aufmerksam gemacht hat.

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