Der Tod der Anderen
von Tatjana Noemi Tömmel»Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?«
Mascha Kaléko, Memento
Philosophieren als Sterbenlernen
Dass die Philosophie ein Faible für den Tod hat, ist kein Geheimnis. Als Zenon fragte, wie er am besten leben könne, soll das Orakel von Delphi geantwortet haben: »Nimm die Farbe der Toten an.« Sokrates als Urbild des Philosophen beweist seine geistige Überlegenheit, indem er sein Todesurteil gelassen hinnimmt. Damit verkörpert er, was Michel de Montaigne später auf den Begriff bringt: Philosophieren heißt Sterben lernen. In seinem Versuch über die Sterblichkeit beschreibt der Erfinder des Essays die Kontemplation als »Einübung in den Tod«. Auch Friedrich Nietzsche war von diesem Sterbenlernen umgetrieben, ein Sterbenlernen, das keineswegs nur metaphorisch gemeint war – etwa als Absterben von den irdischen Phänomenen zugunsten einer geistigen Schau –, sondern das den wirklichen, den leiblichen Tod meint. Für Albert Camus schließlich wird der eigene Tod zur Fundamentalfrage: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.«
Sieht man vom Suizid einmal ab – wie lernt man eigentlich sterben? Wenn man den Schilderungen Montaignes Glauben schenken darf, hat er sich geradezu obsessiv mit dem eigenen Tod beschäftigt. Angesichts der Allgegenwärtigkeit und Unentrinnbarkeit der Sterblichkeit rät er dazu, Umgang mit ihr zu pflegen, um sie ihrer Unheimlichkeit zu berauben. Durch diese ständige Besinnung auf die condition humaine der Sterblichkeit soll der Mensch lernen, den Tod als Befreiung zu begreifen: »Das Leben hat keine Übel mehr für den, der recht begriffen hat, daß der Verlust des Lebens kein Übel ist.« Dergestalt »gestiefelt und gespornt zur Abreise gerüstet«, empfiehlt Montaigne, dass wir es im Augenblick des Todes nur noch mit uns selbst zu tun haben sollten: »Ich löse mich von allem […] außer von mir selbst.« Während es vielen schwer fiele, von geliebten Menschen Abschied zu nehmen, könne er selbst aufbrechen »ohne irgendeiner Sache nachzutrauern«. Haben Leben und Sterben durch das Lösen aller Bindungen erst einmal ihre Bedeutung verloren, ist alles »einerlei«, soll es sich offenbar besser leben lassen. Nicht mehr und nicht weniger ist also erforderlich, als die Welt und andere Menschen für nichtig zu achten.
Seltsam ist, dass sich dieser praemeditatio mortis, für die insbesondere die Stoa bekannt ist, immer wieder der Gedanke beigesellt, der Tod sei eigentlich besser als das Leben. So lässt der zu Tode verurteilte Sokrates seine Freunde wissen, dass jeder Philosoph gerne sterben wolle. Nietzsche behauptet, dass viele zu spät sterben, Seneca gar, dass niemand zu früh sterbe. Woher kommt diese Vorliebe der Philosophie für den Tod, teilweise sogar für die Selbsttötung, diesen angeblich freien Tod?
Bei Platon steht hinter der Gelassenheit zum Tode die Annahme, dass der Leib ein Gefängnis sei, das man abstreifen müsse, damit die Seele die Wahrheit rein erfassen kann. Erst nach dem Tode ist deshalb wahre Erkenntnis möglich. Noch bei Martin Heidegger hat das »Vorlaufen zum Tode« eine vorwiegend hermeneutische Funktion – wir verstehen das Ganze unseres Lebens nur vom Ende her. Der moderne »Bilanzsuizid« dagegen flieht nicht den Leib als solchen, sondern will nur die Souveränität über ihn bis zuletzt behaupten. »Sollte ich entweder die Grausamkeit einer Krankheit oder die eines Menschen erwarten, wenn ich durch die Mitte abtreten und das Missgeschick vertreiben kann?«, fragt Nietzsche. Damit versucht er dem Tod zu nehmen, was ihn am meisten ausmacht: dass er einem widerfährt.
Der Tod der Anderen in der Philosophie
Während man sich im Falle des eigenen Todes noch damit trösten kann, dass er nicht ist, solange man selbst ist, und man selbst nicht mehr, wenn er ist (Epikur), verhält sich dies mit dem Tod der Anderen völlig anders: In voller Lebendigkeit erfahren wir deren Tod. Doch gerade hier, am Punkt des größten Schmerzes, zieht sich die philosophische Reflexion zurück. Während die Philosophie seit jeher dem eigenen Tod eine überragende Bedeutung beigemessen hat, spielt der Tod der Anderen kaum eine Rolle.
So bleibt zum Beispiel in Heideggers (auf die Eigentlichkeit fixierter) Daseinsanalyse die »›objektive‹ Gegebenheit des Todes« der Anderen ohne Gewicht. Heidegger verwirft die Erfahrung des Todes der Anderen, weil an ihr gerade nicht die Unvertretbarkeit und »Jemeinigkeit« des Todes sichtbar werde: »Der Tod ist, sofern er ›ist‹, wesensmäßig je der meine. Und zwar bedeutet er eine eigentümliche Seinsmöglichkeit, darin es um das Sein des je eigenen Daseins schlechthin geht.«
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