Heft 893, Oktober 2023

Die Reichsbürger

Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht von Christoph Schönberger, Sophie Schönberger

Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht

Mit ihren Reichsfantasien und Rechtsimaginationen bringt die Reichsbürgerszene ein komplexes Wechselspiel von Macht und Ohnmacht hervor. Denn Angriffspunkt ihrer eigenwilligen Form von Widerstand ist zunächst einmal die legitime Macht der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Organe. Diese Macht wird nicht nur bekämpft, sie wird ganz einfach geleugnet. Dem kann der Staat zwar mit physischem Zwang – vor allen Dingen der Polizei – etwas entgegensetzen. Aber diese Form tatsächlicher Gewalt ist nur ein Teilaspekt des Fundaments, auf dem die Macht der staatlichen Rechtsordnung beruht. Mindestens genauso wichtig ist eine andere, immaterielle, ja imaginäre Ressource: der Glaube der Rechtsunterworfenen an Geltung und Legitimität der Staatsgewalt. Und genau hier setzt der Widerstand der Reichsbürger in viel entscheidenderer Weise an. Indem sie der Bundesrepublik ihre rechtliche Existenz absprechen, attackieren sie grundlegend dieses imaginäre Fundament.

Eine psychologische Ursache für die Behauptung der Existenz einer alternativen Rechtsordnung liegt bei den Szeneangehörigen oft in einem individuellen Gefühl von Ohnmacht, das zum Teil mit Brüchen der eigenen Biografie in der Lebensmitte zusammenhängt. Die Reichsbürgerideologie wandelt dieses individuelle Ohnmachtsgefühl nun in eine Machtfantasie um. Dadurch, dass sie dem Staat die imaginären Ressourcen seiner Macht abspricht, entsteht der Raum für verschiedene Techniken, mit denen das entstehende Vakuum durch eigene Selbstermächtigung gefüllt werden kann: die schlichte Selbsterhöhung kraft vermeintlich überlegenen Wissens, das von der Gewissheit getragen wird, anders als die Bevölkerungsmehrheit kein »Schlafschaf« zu sein; die reichsbürgerspezifischen Formen des »Papierterrorismus«, durch welche den bürokratischen Mitteln des Staates eigene bürokratische Formen, pseudorechtliche Argumente und Drohungen entgegengesetzt werden; die Ausgabe eigener Ausweise, Wappen und Siegel bis hin zur eigenmächtigen Ernennung zum kommissarischen Reichskanzler oder gar zum König von Deutschland.

Diese Verhaltensweisen werden öffentlich immer wieder ins Lächerliche gezogen oder schlicht als verrückt abgetan. Tatsächlich werden in diesen Reaktionen aber ihrerseits wiederum Ohnmachtsreaktionen der Mehrheitsgesellschaft sichtbar, die denjenigen der Reichsbürger strukturell gar nicht so unähnlich sind. Der Blick auf die Reichsbürgerbewegung unter dem Gesichtspunkt der Dialektik von Macht und Ohnmacht kann dabei helfen, die spezifische Gefährlichkeit dieser Szene und die Schwierigkeiten des Staates im Umgang mit ihr besser zu verstehen.

Die Rechtsfantasie gekränkter Laien

In der Begegnung mit der Macht des Rechts fühlen sich nicht nur Reichsbürger ohnmächtig, sondern vielen juristischen Laien geht es ähnlich, wenn sie von einer komplexen, von Experten in einer schwer zugänglichen Sprache verwalteten Rechtsordnung in die Pflicht genommen werden. Die Besonderheit der reichsbürgerlichen Verarbeitung dieses laienhaften Ohnmachtsgefühls besteht darin, dass sie sich durch Selbstermächtigung zu Experten einer Rechtsordnung aufschwingen, die durch das »offizielle« Rechtssystem auf illegitime Weise verdeckt wird. In allen westlichen Ländern gibt es Fantasien des Auszugs aus der verwalteten Welt, die Sehnsucht nach einer Lossagung von Staat und Recht und der Gründung eigener selbstverwalteter Gemeinwesen. Bei den deutschen Reichsbürgern nimmt diese Lossagung allerdings eine besonders bizarre Form an. Denn Reichsbürgern geht es gerade darum, ihr eigenes Rechtssystem als das eigentlich geltende zu behaupten und die vermeintlich »offizielle« Rechtsordnung als gewaltsames Scheinrecht zu entlarven. Hier sind juristische Laien vom Recht in einer Weise umgetrieben, ergriffen und besessen, die man bei den »Freemen« und Selbstverwaltern anderer Länder so nicht findet. Ihre Rechtsobsession verleiht den Reichsbürgern die Züge einer juristischen Laiensekte.

Will man diese bizarre Form laienhafter Selbstermächtigung auf dem Feld des Rechts genauer einordnen, ist es wichtig zu sehen, dass moderne Gesellschaften einen Gegensatz zwischen Laien und Fachleuten nicht nur im Recht kennen, sondern auch auf anderen Gebieten mit lebensbestimmenden Regeln wie der Religion oder Medizin. Ebenso lässt sich immer wieder beobachten, dass manche Laien das jeweilige offizielle Expertenwissen nicht für sich gelten lassen wollen und alternative Zugänge aufgreifen und suchen. Das »orthodoxe« Wissen der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Fachleute wird dann durch »heterodoxe« Laienbewegungen infrage gestellt. Auf dem Feld der Religion zeigt sich das etwa im Gegensatz zwischen den Großkirchen mit ihren kirchenamtlichen Lehren und Verlautbarungen und einer bunten Szene von Sekten und esoterischen Lehren wie Praktiken. Hier konkurrieren traditionelle Priester und Pfarrer mit charismatischen Propheten und gaukelnden Zauberern, zunehmend aber auch mit vereinzelten spirituellen Wanderern. Im Bereich der Medizin sieht sich die sogenannte Schulmedizin seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts mit vielfältigen Gegenbewegungen wie Naturheilkunde, Homöopathie und Alternativmedizin konfrontiert, in denen sich das Bedürfnis von Laien nach anderen Methoden der Heilung verwirklicht. In der westlichen Welt bricht sich dabei seit den 1960er Jahren auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern eine Tendenz zu wachsender Laienermächtigung und Autodidaktisierung Bahn, ein »Aufstand des Publikums« gegen die jeweiligen Fachleute.

In diese Entwicklung fügen sich die Reichsbürger in gewisser Weise ein, nur dass sie eben nicht im Bereich der Religion oder Medizin, sondern auf dem Feld des Rechts ein vermachtetes Wirklichkeitswissen, das tatsächliche Zusammenhänge ebenso betrifft wie normative Orientierungen, durch abweichende Deutungen infrage stellen. Auch bei ihnen handelt es sich um eine Szene, die sich stark durch Abgrenzung vom herrschenden »orthodoxen« Rechtssystem definiert und einen Alternativhorizont dazu entwirft. Nicht zufällig weist das Reichsbürgermilieu daher auch immer wieder einmal Berührungspunkte und Übergangsbereiche zur Esoterik auf.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors