Heft 890, Juli 2023

Die Welt verändern

Welt und Welten von Andreas Dorschel

Welt und Welten

Etwas ändern heißt, ein Ding von einem ersten Zustand in einen zweiten bringen, der sich vom ersten unterscheidet. Das rohe Fleisch wird gekocht, der schmutzige Fußboden gesäubert, das zerzauste Haar gekämmt. Ist der Sinn von Ändern bei Fleisch, Fußböden, Haaren trivial, so gilt dies entschieden nicht für ein Ding, von dem kaum auch nur feststeht, dass es ein Ding ist: die Welt. Dass Weltveränderung einer weitverbreiteten Intuition entspricht, ist offenkundig; derartige Eingebungen systematisch in Zweifel zu verwandeln heißt philosophieren.

Die Zweifel rühren in diesem Fall daher, dass einem in Wirklichkeit ja nie die Welt begegnet, sondern Dinge, Menschen, Ereignisse. Wollte man unter »Welt« bloß die unbestimmte Summe all dessen verstehen, das irgendjemandem über den Weg läuft, dann nähme sich die Sache harmlos aus. Doch in der Rede davon, die Welt zu verändern, steckt, wie es scheint, ein anderer, weitergehender Anspruch. Trifft dies zu, dann ergeben sich drei naive Fragen, die indes nur drei Aspekte einer einzigen darstellen: Worum geht es, wenn jemand die Welt ändern will? Weiß so jemand, was er tut? Und falls dies nicht der Fall sein sollte: Lässt es sich herausfinden? Als sowohl philosophische als auch naive Fragen machen sie – und ihre nachfolgende Behandlung – sich dadurch unangenehm bemerkbar, dass alles wörtlich genommen wird. Allein ein derart begriffsstutziger Anfang erlaubt es, am Ende, bestenfalls, zu einem Begriff zu gelangen. Mag es auch zunächst so aussehen, als werde auf diese Weise nur über Worte geredet, so wird sich herausstellen, dass damit vielmehr durch die Worte hindurch etwas zur Sache gesagt ist.

Verwunderung über jedes Vorhaben, die Welt zu ändern, kann daran einsetzen, dass gerade die Welt seit langem als eine Ordnung galt, die, wenngleich aus sich heraus in Bewegung, dem menschlichen Willen zur Veränderung entzogen ist. Die Schrift Über die Welt, die früher Aristoteles zugeschrieben wurde, doch nach seiner Zeit, vielleicht um 200 vor Christus, entstand, nennt Welt »die Ordnung [taxis] und Einrichtung [diakosmēsis] des Alls, die von Gott [theou] und durch Gott [theon] gewahrt wird. Ihre Mitte [meson], die unbewegt und ortsfest ist, hält die lebentragende Erde [], Heimstatt und Mutter mannigfacher Wesen. Der Raum über ihr ist ein Ganzes und gänzlich abgeschlossen; seine höchste Region, der Wohnsitz der Götter, wird Himmel [ouranos] genannt. Erfüllt mit göttlichen Körpern, die wir Gestirne [astra] zu nennen pflegen, ist er in ewiger Bewegung [kinēsin aidion] und tanzt in kreisendem Umschwung mit all diesen Körpern ewig und unaufhörlich den Reigen. Da aber der ganze Himmel und der Kosmos kugelförmig [sphairoeidous] sind und sich, wie gesagt, unaufhörlich bewegen, müssen zwei gegenüberliegende Punkte unbewegt [akinēta] bleiben, wie bei einer Kugel, die in der Drehbank kreist, diese Punkte starr bleiben und die Kugel festhalten.«

Ganz so dürfte die Welt nach Erkenntnissen moderner Astronomie nicht beschaffen sein. Für Choreografie zum Beispiel – synanachōreuei, heißt es bei (Pseudo-)Aristoteles – hat diese wenig Sinn. Doch die Unterschiede im Bild von der Welt scheinen für das Thema unerheblich vor dem Umstand, dass diese, so oder so, schon da war, ehe es Menschen gab, und noch da sein wird, wenn es keine mehr gibt. Zwischenzeitliche Versuche derselben, sie zu ändern, würden eine so verstandene Welt nicht tangieren.

Es muss demnach neben der Gleichsetzung von Welt und Universum noch einen anderen, modernen Weltbegriff geben, der sich vom antiken so unterscheidet, dass Raum entsteht für die wohl gleichfalls moderne Idee der Weltveränderung. Allerdings liegt die Sache schon für das Altertum nicht so eindeutig, wie es der Rekurs auf die Schrift Über die Welt nahelegt. Martin Heidegger hat triftig darauf hingewiesen, dass in der ältesten philosophischen Überlieferung, den Fragmenten der Vorsokratiker, »Welt« nicht etwa begriffen wird als eine unabhängig von den Menschen einfach vorhandene Ansammlung all dessen, was ist (summa rerum), sondern von vornherein »in Beziehung gebracht« ist »zu Grundweisen, in denen das menschliche Dasein faktisch existiert«. Dies geht etwa hervor aus Heraklits Fragment 89, welches Heidegger so wiedergibt: »Den Wachen gehört eine [hena] und daher gemeinsame [koinon] Welt, jeder Schlafende dagegen wendet sich seiner eigenen [idion] Welt zu.«

Heidegger neigte dazu, die ursprüngliche philosophische Bedeutung eines Begriffs oder Wortes für wahrer zu halten als die spätere vulgäre. Das war fahrlässig. Denn stets könnte das nachgeborene vulgus Recht haben gegenüber einer älteren Philosophie. Heraklits Satz deutet jedoch wirklich auf etwas, das später unkenntlich wurde. Denn dieser Satz reicht weit über das hinaus, was er zunächst erschließen soll, die Eigentümlichkeit einer Traumwelt. Die philosophische Entdeckung ist vielmehr die der Eigenwelt – idios kosmos, in Heraklits Worten –, deren Charakter sich vielleicht am besten in Analogie zur Bindung des Sehens an einen Horizont erschließt. Wer im Freien über die Felder schaut, für den sieht es unvermeidlich so aus, als berühre am Horizont der Himmel die Erde. So jemand kann sich denken, ja wissen, dass am Ende der Felder das, was man so »den Himmel« nennt, ebenso hoch über ihm wäre wie am Blickpunkt, den er gerade einnimmt; er kann ferner sich denken und wissen, dass hinter der Linie, bis zu der sein Auge reicht, wieder vieles andere liegt. Doch für den Blick, insofern er Blick ist, nicht Gedanke oder Wissen, ist am Horizont die Welt zu Ende.

Das Denken und Wissen hat nun aber seinerseits einen Horizont; es reicht jeweils so weit es eben reicht – bei einigen weiter, bei anderen weniger weit. Wann immer ein Mensch stirbt, geht mit ihm eine Welt unter – eine enge Welt im Fall des Bornierten, eine weite Welt im Fall des Aufgeschlossenen, eine sterile Welt im Fall des Ideenlosen, eine fruchtbare Welt im Fall des Findigen und so weiter. Dass eine derartige Typologie am Ende nicht zu halten sein wird, gehört selbst noch mit zu diesem Gedanken, der ja gerade darauf hinausläuft, keine solche Welt sei ganz wie die andere. Auch widerspricht die Überlegung zwar Heraklits Satz, die Welt der Wachen sei eine einzige (hena), denn die Unterschiede im Horizont ergeben jeweils andere Welten; doch zum einen wird Heraklits Hinweis auf das Eigene (idion) so nur weitergedacht, zum anderen ist damit Gemeinsames (koinon) keineswegs ausgeschlossen.

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