Heft 896, Januar 2024

Melodien

von Andreas Dorschel

I

Auch die Kunstwissenschaften haben ihre Obduzenten; eine der Leichen, über die sie sich seit längerem immer wieder einmal beugen, war und ist die Kunst der Melodie. Vor einem halben Jahrhundert eröffneten Lars Ulrich Abraham und Carl Dahlhaus ihre Melodielehre mit dem Satz: »Eine Melodielehre, die 1972, in der Epoche der Klangkomposition und der elektronischen und aleatorischen Musik, erscheint, kann keine Unterweisung in der Komposition von Melodien sein (es sei denn im Bereich der Schlagerproduktion), sondern lediglich eine Anweisung zum Analysieren.« Melodien, so die beiden Musikwissenschaftler, seien eine Erscheinung der Vergangenheit. Wer künstlerisch auf der Höhe der Zeit sei, schreibe keine mehr. Warum aber verfasst jemand eine Lehre von der Melodie, wenn Musikgeschichte auf deren Atrophie hinausläuft? Wie diese Frage zu beantworten sei, ist bereits im ersten Satz der Melodielehre angedeutet: Retrospektiv fordere das riesige Corpus an Melodien, das sich allein in der europäischen Musikgeschichte – ihr entnahmen Abraham und Dahlhaus ihre Beispiele – angesammelt habe, Werkzeuge ihrer Untersuchung; sie soll das Buch bieten: »Die Melodie wird historisch, im Bewußtsein äußerer und innerer Distanz, begriffen und analysiert.«

Mit Blick auf die damalige Gegenwart implizierte jener erste Satz, eine Musik, die soziologisch in einer Nische hauste – die als epochal etikettierten Verfahren erreichten selbst im Westdeutschland der 1970er Jahre, das eine risikolose Avantgarde mit Subventionen verwöhnte, nur einen winzigen Anteil der Bevölkerung –, sei die eigentliche, die wahre Musik. Für Abraham und Dahlhaus galt, wie Adorno es formuliert hatte, dass »Musik überhaupt aufgeht in der neuen«. Die einer solchen Überzeugung zugehörige Adornitische Verachtung zog sich folgerichtig die stets des Melodischen verdächtige populäre Musik zu, für welche die beiden Musikwissenschaftler am Anfang ihrer Melodielehre lediglich metonymisch, pars pro toto, den »Schlager« stehen ließen.

Wenn es seit jeher etwas gab, das zur Musik lockte und an ihr berückte, so ist es die Melodie gewesen. Antike und mittelalterliche Traditionen schrieben ihr magische Wirkung zu. In Mozarts Così fan tutte (1790) schwelgen die unaufgeklärten Figuren in Melodien; der aufgeklärte Don Alfonso belehrt sie melodienarm, nah dem Rezitativ. Besteht Modernität in der Entzauberung der Welt, also auch der Entzauberung der Musik, dann war ihnen, der Welt und der Musik, zuallererst die Melodie auszutreiben. Was die beiden melodiedistanzierten modernen Melodielehrer 1972 schrieben, schien in diesem Sinne durchaus zeitgemäß. Und doch waren sie damals nicht ganz auf dem Laufenden. Zwar hatten sie Recht mit ihrem Hinweis auf Klangkomposition. Im 19. Jahrhundert hatten sich Komponisten in den deutschsprachigen Ländern gern als Tonkünstler bezeichnet. Melodien bestehen aus Tönen; eine Melodie kann man nicht wahrnehmen, ohne die Töne wahrzunehmen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwandelten einige Komponisten Musik, die bisherige Tonkunst, in eine Klangkunst. Solange sie für traditionelle Instrumente komponierten, wie György Ligeti in Atmosphères (1961), oder für menschliche Stimmen, wie der selbe Komponist in Lux aeterna (1966), mussten sie dafür immer noch Töne notieren. Diese aber wurden hier so geschichtet, dass man, anders als in einem Akkord, über weite Strecken nicht mehr diesen oder jenen bestimmten Ton heraushörte. Kraft Ligetis ingeniöser »Mikropolyphonie« verschwand der Ton im Klang. Daher gibt es in Atmosphères und Lux aeterna keine Melodien mehr. Elektronisches Komponieren konnte endlich auch vom Denken in Tönen dispensieren; komponierend ließ sich nun unmittelbar auf Klänge zugreifen und mit ihnen gestalten.

Solche Klangkunst vermochte manches, was Tonkunst nie konnte. Tonkunst indes hatte auch manches zustande gebracht, was jenseits der Möglichkeiten einer Klangkunst lag; darum ersetzt diese jene nicht. Dem Protagonisten der Klangkomposition, György Ligeti, wurde das klar, kurz bevor Abraham und Dahlhaus der Melodie mit wissenschaftlicher Autorität den Totenschein ausstellten. Ein Jahr früher nämlich, 1971, brachte Ligeti ein Werk heraus, dessen schlichter Titel auch herausfordernd gegenüber solchen Gewissheiten des höheren Zeitgeistes gemeint war: Melodien. In seinem Selbstkommentar, Über »Melodien«, hat Ligeti die Sache auf den Punkt gebracht: »Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre habe ich in meinen Stücken, also vor allem in Apparitions, Atmosphères und Volumina, nicht nur jede melodische Konfiguration abgeschafft, sondern auch alle erkennbaren Spuren von Harmonik und Rhythmik getilgt, und statt dessen mit sehr dichten und komplexen Geweben mikropolyphoner Struktur gearbeitet. Musikalische Gestalten – ob harmonische, melodische oder rhythmische – waren diesen unifizierten Netzstrukturen fremd. Im Laufe der sechziger Jahre bin ich dann zu neuen Einsichten gekommen, was meine eigene kompositorische Arbeit betrifft. Dauernd mit solch homogenen Klangflächen und polyphonen Netzen zu arbeiten, schien mir unbefriedigend.«

Unbefriedigend fand der Melodieabschaffer ein Neuern auf dem Wege des Ent-Erfindens. Denn es hinterließ einen Zustand luxuriöser Armut: die Proskription eines unersetzlichen Mittels der Musik inmitten nahezu unbegrenzter technischer und damit klanglicher Ressourcen. So habe er versucht, schrieb Ligeti, aus den homogenen Netzkonstruktionen wieder deutliche Konturen – Gestalten mit melodischem Profil – herauszuarbeiten. »Der Titel Melodien bezeichnet dabei einen ganz konkreten musikalischen Sachverhalt, hat freilich insgeheim noch einen anderen Aspekt – etwas von ›épater l’avantgarde‹, weil Melodien in der neuen Musik so lange tabu waren.« Der letzte Satz Ligetis hat eine ironische Note; als »insgeheim« anwesend kann der genannte Aspekt wohl kaum jemandem vorgekommen sein, insofern das Tabu über die Melodie in Neuer Musik deren Identität stiftet. Es definiert den Prüfstein schlechthin für einen Ausschluss aus der Gemeinschaft der Aufrechten, der Kompromisslosen, der Unerbittlichen. Denn Melodie wäre der tönende Trug richtigen Lebens im falschen: ein Ornament an der Fassade der Hölle. Als politisches Kriterium bedarf das Tabu über die Melodie in der Neuen Musik nicht eigens eines ästhetischen Arguments, ja überhaupt nicht vieler Worte. Es gedieh und gedeiht, wie andere Tabus auch, in einem weiten Feld des Unausgesprochenen, als selbstverständlich Vorausgesetzten. Doch es gibt, wiederum wie bei anderen Tabus, zumal für Fälle des Tabubruchs, eine Weise expliziter Thematisierung. Sie nimmt im Fall der Melodie die Form des out-of-sale criticism an: Das geht gar nicht mehr, das kann man heute einfach nicht mehr machen.

II

Was Abraham und Dahlhaus 1972 für altmodisch hielten, war demnach 1971 die neueste Nichtmode. Obschon keiner Mode zuzurechnen, stand Ligeti mit seiner Erfahrung künstlerischer Defizite Neuer Musik auch wieder nicht allein. Eine solche prägt ebenso das gleichzeitige Werk Olivier Messiaens, etwa die zwölfsätzige Orchesterkomposition Des canyons aux étoiles … (1971–74). Messiaen verfuhr ganz anders als Ligeti; doch was sie Anfang der 1970er Jahre verband, war die Exploration melodischer Möglichkeiten.

Obschon Ligeti machte, was man einfach nicht mehr machen konnte, bot er mit Melodien keinen hübschen Reigen munterer Jingles, an dem sich das Publikum endlich einmal von der melodischen Entsagung Neuer Musik erholen konnte. Einen entsprechend anspruchslosen Melodiebegriff mochte sich der Komponist nicht zu eigen machen. Darauf, der Sache eine intelligente Wendung zu geben – eine intelligentere als die, welche er vorfand –, hat Ligeti nie verzichtet. Und so versteckte er in Melodien die Melodien. Die Pointe des Verfahrens aber war, dass er sie durch nichts anderes verbarg als eben durch – Melodien. »Die Stimmen werden zu individuellen Melodien, mit eigenem Duktus, Tempo, Rhythmus und eigener intervallischer Struktur«; gerade ihrer Eigenart, also ihrer melodischen Qualität halber, machten sie jedoch in Melodien einander das Feld streitig. Den Plural im Werktitel gebrauchte Ligeti also mit Emphase. Im Sinne wechselseitiger melodischer Widersetzlichkeit kombinierte er, um nur ein Beispiel zu nennen, in den Takten 79/80 (bei Buchstabe U) aufsteigende mit in der Richtung uneindeutigen sowie mit absteigenden Konturen: Geige, Bratsche, Cello und die rechte Klavierhand bewegen sich aufwärts; linke Klavierhand, Vibraphon und Kontrabass bleiben unentschieden; die melodischen Linien der Blechbläser und des Fagotts weisen abwärts. Das Werk erscheine daher beim ersten Hören als ein »Chaos«; erst wenn man die Musik besser kennengelernt habe, werde sie, so Ligeti, fassbar als das, was sie ausmacht: Melodien.

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