Gesinnung
von Andreas DorschelAuf der Glastür eines Universitätsgebäudes klebt ein Plakat. Es fordert mich auf, die Basisgruppe Lehramt eines großen geisteswissenschaftlichen Faches ins Studentenparlament, oder Studierendenparlament, zu wählen, »denn wir sind« – jedes der folgenden Worte nimmt eine ganze Zeile ein – »* antirassistisch |* antifaschistisch |* antiableistisch |* antisexistisch |* (queer-)feministisch |* antiheteronormativ |* klimagerecht |* kapitalismuskritisch |* emanzipatorisch«. Neben den Worten sehe ich Bildchen sympathischer Gesichter; sie gehören denjenigen, die für die Basisgruppe kandidieren. Irgendwie schauen sie aus wie die Adjektive, derentwegen ich sie wählen soll, denke ich; aber vielleicht rede ich mir das auch nur ein. Genaugenommen soll auch nicht ich sie wählen, sondern andere, denn meine Studentenzeit liegt lange zurück. Und in dieser vergangenen Ära sollte ich, so scheint es mir, Basisgruppen, obgleich sie sich auch damals schon als kapitalismuskritisch und emanzipatorisch verstanden, eher anderer Dinge wegen wählen.
Die Adjektive, mit denen die Basisgruppe des Jahres 2021 für sich wirbt, bezeichnen: Gesinnungen. Dies ist freilich ein altmodisches Wort; die, denen ich es nachsage, würde es wahrscheinlich eher befremden. Doch vielleicht konnte dies Wort für etwas derart Spezielles wie Gesinnungen nur darum so gründlich veralten, weil, was es einmal bezeichnete, nun in so allgemeiner Weise dominiert.
Gründe, weshalb eine Gruppe ins Studentenparlament gewählt werden wollte, waren vor ein paar Jahrzehnten eher Ziele, Zwecke, praktische Vorteile, Interessen, der Verweis auf Erreichtes oder auf bestimmte Missgriffe derer, die bisher die Positionen innehatten – nichts davon wäre ohne Weiteres mit einer Gesinnung gleichzusetzen. Im Vergleich des einen mit dem anderen erscheint die Emphase der Gesinnung als Position des Rückzugs. Denn die Gesinnung hält sich, nach Max Weber, grundsätzlich für unbelangbar, was den Erfolg von Handlungen angeht. Weder lässt sich an der Gesinnung der Erfolg ablesen, noch am Erfolg die Gesinnung. Zur Frage des Erfolgs hat die Gesinnung vornehmlich eine Auskunft parat: Alles würde gut werden, wenn jeder und jede die richtige Gesinnung hätte, zum Beispiel, wenn es auf Erden keine Rassisten mehr gäbe. Die Gesinnung feiert Triumphe im Konjunktiv.
Diese Charakterisierung besagt nicht, die 2021 wahlkämpfende Gruppe, im Unterschied zu denen einer früheren Ära, sei unpolitisch. Politische Gesinnungen bringt die Basisgruppe ins Spiel, im Unterschied zu Gesinnungen anderer Art, zum Beispiel religiösen oder ästhetischen. Und es gibt nicht lediglich, nach Webers bekannter Wortprägung, »Gesinnungsethik«, sondern auch, nach seiner weniger bekannten Wortprägung, »Gesinnungspolitik«.
Ebenso wenig soll suggeriert werden, die Repräsentanten der Gruppe hätten nur Gesinnungen, nichts weiter. Wäre dies gemeint, dann böte die Charakterisierung einen Strohmann (w/m/d). Es gibt niemanden, der nur Gesinnungen hat; wer für die Basisgruppe kandidiert, hat sicher auch praktische Vorteile und anderes mehr im Sinn. Die Frage ist nur, wer was in welcher Weise in den Mittelpunkt rückt. Und Geeignetes in den Mittelpunkt rücken soll ein Wahlplakat gewiss. Zwar ist gerade dieses Medium im Übrigen von eher zweifelhaftem Wert, die Beschaffenheit einer politischen Gruppe zu erkennen. Doch es lässt darauf schließen, was – wirklich oder vermeintlich – bei ihrer Klientel am ehesten zieht; und darauf kommt es hier an.
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