Heft 902, Juli 2024

Genug gespielt

von Andreas Dorschel

Dass Sprache ein Spiel sei oder aus Spielen bestehe, versichert Martin Seel in seinem 2023 erschienenen Buch Spiele der Sprache. Die Botschaft wird niemanden mehr überraschen. Vor rund siebzig Jahren, als Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, schien der Blick auf die Sprache vom Spiel her allerdings erstaunlich. Kinder zeigen ihre Spielzeuge, doch Erwachsene verbergen sie üblicherweise – ich, mag Wittgenstein sich gedacht haben, zeige die Spielzeuge: Es sind die Worte und alles, was dazugehört. Der Schein des Neuen, Frischen, Aufschließenden daran, Sprache als Spiel, genauer: als Spiele zu sehen, mag getäuscht haben, aber er war zwei oder drei Jahrzehnte wirksam, sicherlich bis in die 1970er Jahre.

Seitdem verfestigten sich die Sprachspiele im philosophischen Jargon. Über die Philosophie hinaus schwollen sie zum Gemeinplatz. Mit Instinkt für die Phrase gemeindete Lyotard die jeux de langage in die Postmoderne ein. Das Sprachspiel sank ab zu Halbbildungsgut; da unten liegt es nun in seltsamer Nachbarschaft unweit von Derridas Dekonstruktion, die lediglich rascher verkümmerte: von einer Art Geheimkunst ihres charismatischen Erfinders zu einer beliebten Verfahrensweise in Proseminararbeiten geisteswissenschaftlicher Bachelorstudien. Rührt im Fall der Sprachspiele der betrübliche Ausgang der Ideengeschichte daher, dass Wittgensteins ursprüngliche Einsicht verschüttet wurde? Oder war möglicherweise der Gedanke bereits an der Quelle, oder vermeintlichen Quelle, trüber als viele, bis hin zu Seel, meinten und meinen?

»Hauptfigur dieses Buches«, eben der Spiele der Sprache, sei Ludwig Wittgenstein, schreibt Seel. Auf welche Weise also hatte der Autor der Philosophischen Untersuchungen das Spiel ins Nachdenken über Sprache eingeführt? Das Wort »Spiel« fällt zuerst in § 7 der Untersuchungen; doch dieser bezieht sich zurück auf § 2. Dort exponiert Wittgenstein ein erfundenes Beispiel, von dem her er weiterdenken möchte: »Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ›Würfel‹, ›Säule‹, ›Platte‹, ›Balken‹. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen.«

In § 7 der Untersuchungen fährt Wittgenstein fort: »Wir können uns auch denken, daß der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in (2) eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele ›Sprachspiele‹ nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden. Und man könnte die Vorgänge des Benennens der Steine und des Nachsprechens des vorgesagten Wortes auch Sprachspiele nennen. Denke an manchen Gebrauch, der von Worten in Reigenspielen gemacht wird. Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen.«

Wittgenstein erwog, so berichtet Maurice O’Connor Drury, seine Schriften unter das Motto »I’ll teach you differences«, nach Shakespeares King Lear, zu stellen. Doch in § 7 der Untersuchungen verwischt er eher eine Differenz, als dass er eine solche lehrte. Denn sowohl das Ganze als auch das, was in ihm vorkommt, mit dem selben Wort zu belegen, klärt nie etwas. Man kann sich manchmal damit abfinden, indem man beim selben Wort an den nicht genannten Unterschied denkt. Die Katzen (Felidae) sind eine Familie in der Ordnung der Raubtiere (Carnivora). Zu ihnen zählen Löwe und Tiger ebenso wie die Hauskatze (Felis catus), letztere meist »Katze« genannt. Unter den (Haus)Katzen wiederum werden die weiblichen als »Katzen« bezeichnet, die männlichen hingegen als »Kater«.

Es kommt also die Katze in der Katze in der Katze vor, und bei Wittgenstein das Sprachspiel im Sprachspiel, etwa das Sprachspiel des Bauenden und seines Gehilfen, im Sprachspiel, nämlich der Sprache samt Kontext im »Ganze[n]«. Die etwas missliche mehrfache Bedeutung von »Katze« ist Resultat der Sprachgeschichte und vorläufig irreparabel. In § 7 der Untersuchungen hingegen stipuliert Wittgenstein Bedeutungen. Es ist nicht leicht zu sehen, weshalb, wenn man schon neuert, derart Verschiedenes mit dem selben Wort belegt werden sollte.

Wittgensteins Beispiel, der Austausch zwischen A und B, ist erfunden. Dennoch lässt sich fragen, ob der Vorgang ein Spiel ist. Aus Sicht des Bauenden und seines Gehilfen wäre er keines. Für sie wäre er Teil ihrer Plackerei, das Gegenteil eines Spiels. Diesen Umstand sollte eine Philosophie, welche den gewöhnlichen Sprachgebrauch respektieren und keine termini technici gegen ihn durchsetzen will, als maßgebend erachten. Den Anschein von Spiel kann jene Abfolge von Rufen und Handlungen nur für jemanden erwecken, der davon absieht, um was es sich wirklich handelt, nämlich um Arbeit. Persönlich war Wittgenstein kein Snob; doch die Bezeichnung »Sprachspiel« ist intellektueller Snobismus. Aus der Perspektive eines müßigen Zuschauers wird ein Aspekt der Situation heraus- und herangezogen: nämlich dass Zug auf Zug folgt wie im Schachspiel; unter diesem Aspekt lässt sich der Vorgang als Spiel etikettieren. Mehr als ein Etikett ist das Wort dann aber auch nicht. A und B wüssten vermutlich, was es heißt, mit Sprache zu spielen, etwa wenn sie beim Schwatz in der Mittagspause einander dies oder jenes Wortspiel unterjubelten.

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