Digitales Theater (Sebastian Hartmann)
Über Medienverhältnisse in der Krise von Ekkehard KnörerÜber Medienverhältnisse in der Krise
Mit der Schließung der Häuser in den bisher zwei »Lockdowns« standen die Stadt- und Staatstheater in Deutschland vor einem Problem. Viele Intendanten reagierten mit Klagen, dass sie von der Politik als nicht systemrelevantes Freizeitvergnügen einsortiert wurden, in einem Atemzug mit Freizeitparks und Bordellen, nicht als das für die Gesellschaft überlebenswichtige Essential, als das sie sich sehen.1 Geklagt wurde auf vergleichsweise hohem Niveau, jedenfalls soweit es die Intendanten betraf, denn die staatlichen Gelder, die in die Hochkultur (zum Glück) reichlich fließen, wurden weiter gezahlt. Dank Kurzarbeit sahen die Bilanzen mancher Theater im Lockdown am Ende sogar besser aus, als sie es mit laufendem Betrieb getan hätten. In Existenznot also gerieten die Theater keineswegs, anders als viele Soloselbständige der freien Szene.
Dennoch war die Sinnkrise groß. Die Frage lautete: Kann es Theater geben bei geschlossenen Häusern? Oder grundsätzlicher: Wie ist eigentlich das Verhältnis der normalerweise sich auf Bühnen darstellenden Künste zum Netz? Das Kino sieht sich mit dieser Frage schon lange konfrontiert und sucht, wie einst zum Fernsehen, nun auch zu den immer erfolg- und zahlreicheren Streamingdiensten eine Balance zwischen Kooperation und Konkurrenz – wenngleich es weiterhin nicht an gebildeten Verächtern der digitalen Filmrezeption fehlt. In der Schließungskrise lief mancher fürs Kino gedachte Blockbuster nun bei Netflix, Disney+ oder Apple.
Kleinere Verleihe streamten Filme aus ihrem aktuellen Programm, teils wurden die (überschaubaren) Einnahmen solidarisch mit einzelnen Kinos geteilt. Zuletzt entstand als wohl interessantestes Versöhnungsprojekt die Plattform Cinemalovers, die einzelnen kommunalen und Programmkinos eine Ausweitung des von ihnen kuratierten Filmprogramms ins Internet dauerhaft möglich macht. Auch das wichtigste öffentlich geförderte Kino der Republik, das Arsenal in Berlin, legte sich, programmatisch unter dem Namen Arsenal 3, neben seinen zwei geschlossenen Sälen einen zunächst für alle gratis geöffneten digitalen Abspielraum zu.
Für das Kino mag die Anwesenheit eines Publikums vor Ort, vor der Leinwand, nicht notwendig sein, auch wenn sich die soziale Logik der Kunst dabei ändert: Der Film bleibt, schon gar, seitdem er auch im Kino fast ausschließlich digital projiziert wird und die Beamer fürs Heimkino besser und erschwinglicher werden, cum grano salis – auch wenn an diesem (Film)Korn ganze Weltanschauungen hängen – der Film.
Aber bleibt das Theater Theater, wenn man Inszenierungen aufzeichnet und digital abspielt? Gibt es, anders gefragt, eine digitale Form des Theaters? Vor der Pandemie hatte das (ich beschränke mich hier auf den deutschsprachigen Raum) nur Minderheiten interessiert, allen voran die Nachtkritik, die Netz-Plattform für Theater(kritik), die mit der Böll-Stiftung seit 2013 regelmäßig die Konferenz »Theater & Netz« organisiert. Chris Dercon hatte in seiner kurzen Zeit an der Berliner Volksbühne eine digitale Bühne aufzubauen versucht, die ersten Produktionen waren durchaus vielversprechend, gingen aber im großen Scheitern seiner Intendanz fast ohne Widerhall unter.
Mit dem Lockdown der Häuser stand die Frage nun drängend im Raum. Die Theater wichen ihr zunächst aus, und zwar durch Griff ins Archiv. Auf rasch umgerüsteten Seiten kramten sie hervor, was sie fanden – zur Freude der theaterhistorisch Interessieren oft Aufzeichnungen legendärer Inszenierungen aus vergangenen Jahrzehnten: Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Robert Wilson, Bert Brecht, Heiner Müller und mehr. Dann aber auch neuere Produktionen, teils in den für das Theatertreffen erstellten professionellen Fernsehaufzeichnungen, die ein Genre für sich sind und, wenn es gutgeht, ein sehenswerter Hybrid aus Theater und Film, Übertragungen aus einem Medium in ein anderes, in denen das Übertragene erhalten bleibt.
Die vom intelligentesten der Fernseh-Theater-Regisseure, Alexander Morell, in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur der Inszenierung erarbeitete Fassung von Alexander Giesches recht installativer Version von Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän des Schauspielhauses Zürich war so ein Fall. Sehr bewusst zeigt die Aufzeichnung auch den leeren Zuschauerraum des Theaters, wählt die Perspektiven, Ausschnitte und Einstellungsgrößen geschickt, mobilisiert so den Blick auf den Raum, schafft mit klugen Schnitten einen eigenen Rhythmus, der die Rhythmen der Theater-Inszenierung aber nicht konterkariert. Auf einen Wettstreit der Künste lässt sich diese filmische Fassung gar nicht erst ein, sondern dient selbstbewusst mit den Formen des Films dem Theater.
Im schlechten Fall, ein solcher war die Filmfassung von Johan Simons’ Bochumer Hamlet, kann ein Fernseh-Regie-Konzept eine Inszenierung auch beschädigen, wenn nicht zerstören: durch allzu sprunghafte Wechsel zwischen allzu willkürlich gewählten Kameraperspektiven (von unten, frontal, von der Seite, auf der Bühne, davor, dahinter, links und rechts und wieder zurück), durch Zugriffe und Eingriffe, die die Aufmerksamkeit weder auf die Darstellerinnen und Darsteller noch auf die Raumorganisation lenken, sondern vor allem auf das hektische Treiben der Aufzeichnungsregie.
Was bei einer anderen Form des Verfehlens noch augenfälliger wird. Denn auch das bekam man nun auf den Websites zu sehen: eigentlich nur für den internen Gebrauch gedachte statische Aufzeichnungen ganzer Stücke mit einer Kamera, nur die Totale aufs Bühnengeschehen. Auf den ersten Blick erscheint das als Nachahmung des perspektivarmen Blicks der im Theater in der Regel den Sitzplatz nicht verlassenden Zuschauerin. Zur wirklichen Fesselung aber wird diese Monoperspektive erst im Medienwechsel, schließlich ist der Kopf unter Köpfen und der Blick aufs Geschehen, den Raum und die anderen Körper in ihm im Theater beweglich. Und noch die statischsten Einstellungen des Kinos haben ihren Sinn nur als Teil von Filmen, die sehr bewusst auf alle Möglichkeiten der Mobilisierung und beschleunigter Rhythmen verzichten. Die schiere Aufzeichnung, nur fürs Archiv oder auch als Protokoll, etwa für Wiederaufnahmen, ist ein Notbehelf, der für die, die nicht dabei sein konnte, einen Eindruck vermittelt, der, wenn auch vielleicht besser als nichts, notwendig falsch, aber als Negativ der genuinen Erfahrung des Theaters doch auch interessant ist. Die Frage, ob man diese auch digital machen kann, ist damit aber noch nicht geklärt.
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