Heft 871, Dezember 2021

Schattengeboren

Zum Werk von Emine Sevgi Özdamar von Ekkehard Knörer

Zum Werk von Emine Sevgi Özdamar

Einmal ist Emine Sevgi Özdamar in einen Literaturskandal geraten. Das war im Jahr 2006 und hatte mit einem Buch von ihr zunächst gar nichts zu tun. Ausgelöst wurde alles vielmehr von Feridun Zaimoglus Roman Leyla, in dem er in fiktionaler Gestalt die Geschichte seiner Mutter erzählt, von ihrer Kindheit vor allem, ihrem Aufwachsen in der ostanatolischen Stadt Malatya. Der Roman wurde rundum besprochen, allseits gelobt, sehr viel mehr besprochen und auch gelobt als etwa Özdamars drei Jahre davor erschienenes Buch, der Tagebuch-Roman Seltsame Sterne starren zur Erde. Dann aber stellte eine bis heute anonyme Germanistin eine Liste zusammen mit zahlreichen und in dieser Häufung verdächtigen, vor allem motivischen Ähnlichkeiten zwischen Zaimoglus Leyla und Özdamars erstem Roman Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein – aus der anderen ging ich raus (von 1992).

Die Aufregung war groß, Besuche bei der Autorin, vergleichende Analysen, Zaimoglu erkennt selbst »frappierende« Nähen, beteuert aber, nie eine Zeile von Özdamar gelesen zu haben (er lese nur Krimis und Thriller), die Ähnlichkeiten hätten damit zu tun, dass seine Mutter und Emine Sevgi Özdamar beide aus der Stadt Malatya stammten – die heute eine Großstadt ist, in beider Kindheit war sie noch deutlich kleiner. Irgendwann stellte sich heraus, dass es eine weitere, überraschende, aber bei näherer Betrachtung gar nicht so unwahrscheinliche Verbindung gab. Eine Tante Zaimoglus hatte in den sechziger Jahren nämlich im selben Berliner Wohnheim gegenüber vom Hebbel-Theater gelebt wie Özdamar auch (es ist der Özdamar-Leserin als zentraler Ort in Die Brücke vom Goldenen Horn unter »Wonaym« bekannt). Da sei es zum Austausch von Geschichten gekommen, auch so lasse sich manche Parallele erklären.

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