Wie der (west)deutsche Film jung wurde
von Ekkehard KnörerIm Januar 1960 kam Fritz Lang nach Berlin. Er war zu dem Zeitpunkt siebzig Jahre alt und längst eine Legende, als einer der großen Regisseure der Weimarer Jahre, der Deutschland wegen der Nazis verlassen und in Hollywood reüssiert hatte. Allerdings war er dort zu dem Zeitpunkt seit einigen Jahren nicht mehr besonders gefragt. Darum hatte er Artur Brauners Angebot angenommen, für dessen Produktionsfirma in den CCC-Studios in Spandau noch einmal Abenteuerfilme zu drehen. So waren Das indische Grabmal und Der Tiger von Eschnapur entstanden, wurden von der etablierten Kritik in Deutschland eher verlacht, von der jungen Garde in Frankreich dagegen gefeiert; Fritz Lang selbst sprach vom »kindischen Grabmal«, war aber stolz, für das gute Geld handwerklich solide Arbeit geliefert zu haben.
Nun hatte er das Angebot, mit Die 1000 Augen des Dr. Mabuse einen weiteren Film für Brauner zu drehen. Volker Schlöndorff hatte durch Vermittlung Lotte Eisners Lang in Paris kennengelernt, wo der junge Deutsche, noch lange nicht selbst Regisseur, in der Cinemathèque unter anderem als Simultandolmetscher bei Vorführungen deutscher Filme agierte. Darauf berief er sich nun bei der Begegnung in Berlin, in seinem Tagebuch notiert er Langs wenig begeisterte Eindrücke von der Filmszene Deutschlands: »Er sprach vom kulturellen Tod des einstigen Berlin. Nicht einmal ein avantgardistisches Kino gäbe es. Die Produzenten seien genauso borniert wie das Publikum […] Nun habe er in seinem Alter ein halbes oder ein ganzes Jahr verloren. Das Erste, was in Deutschland getan werden müsse, sei die Gründung einer Cinemathek, um wenigstens die Filmschaffenden über das zu informieren, was er und andere in den zwanziger Jahren hier schon einmal erfunden hatten. Die heutigen Kameraleute, Aufnahmeleiter, Requisiteure und auch Autoren seien schlecht.«
Mit der Ansicht stand Fritz Lang nicht allein. Die sechziger Jahre sollten sich als Inkubationszeit des später so genannten Neuen Deutschen Films erweisen, der in den Siebzigern und frühen Achtzigern dem Kino des Landes erstmals wieder weltweite Aufmerksamkeit verschaffte: mit Preisen bei den großen Festivals, dann dem Oscar für Volker Schlöndorffs Blechtrommel. Damit dieser neue Anfang möglich wurde, hatte man jedoch erst den Tod des Vergangenen zu diagnostizieren. Das war genau das, was vielfach passierte. So veröffentlichte 1961 der später vor allem als Autor eines Western-Lexikons bekannte Filmkritiker und -historiker Joe Hembus, 1933 geboren, also im Jahr, in dem Lang Das Testament des Dr. Mabuse, seinen letzten Vorkriegsfilm in Deutschland, gedreht hatte, ein vielbeachtetes Pamphlet mit dem tief ironischen Titel Der deutsche Film kann gar nicht besser sein, in dem er über den deutschen Nachkriegsfilm sagte, was viele unter den Jüngeren genauso empfanden: »Er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er will auch weiterhin schlecht bleiben.« Seine Gegenüberstellungen von Weimar und dem Nachkriegskino waren polemisch, der Blick bewusst ungerecht und verzerrt, nicht erst heute wird man vieles in deutlich milderem Licht sehen. Gerade die Reduktion des deutschen Kinos der fünfziger Jahre auf den Heimatfilm, und dessen Reduktion auf seine schlichtesten Exemplare, wird heute seinerseits eher als schlechter, wenn auch vielleicht nötiger Mythos betrachtet.
Nicht anders als in Frankreich, wo François Truffaut mit seinem 1954 in den Cahiers du Cinéma erschienenen, legendären Artikel Eine gewisse Tendenz des französischen Kinos auf so zielsichere wie bewusst ungerechte Weise das französische Kino der fünfziger Jahre als sklerotisiertes »cinema de qualité« verunglimpfte, verlangte der Aufbruch offenbar nach einer Abstoßungsenergie, die sich auf den Gegenstand ihrer Abneigung erst gar nicht weiter einlassen wollte. »Wo immer man hinkam«, schreibt Edgar Reitz, es ist das Jahr 1961 in München, »in den Toiletten der Gaststätten, an den Alleebäumen, an den Schaukästen der Kinos oder in der Universität, leuchteten einem kleine grüne Aufkleber entgegen mit dem Slogan: PAPAS KINO IST TOT.« Die jungen Rebellen in Deutschland hatten immerhin den Vorteil, sich auf die Nouvelle-Vague-Vorkämpfer in Frankreich berufen zu können, auf ihre Initiativen, Kritiken und ihre ersten, als Revolution empfundenen Filme, was Joe Hembus am Ende seines Buchs mit einer Hommage an Jean-Luc Godards A bout de souffle auch ausdrücklich tat.
Liest man die im vergangenen Jahr erschienenen Erinnerungsbücher von Edgar Reitz, von Werner Herzog und Margarethe von Trotta und den Gesprächsband mit Erika und Ulrich Gregor, kann man die Entstehung einerseits des biografischen Wunsch und Drangs beobachten, gegen das existierende Kino Filmkunst zu schaffen, und andererseits die Entwicklung von ökonomischen, publizistischen, vergangenheits- und zukunftspolitischen Infrastrukturen, die das Neue Deutsche Kino erst möglich machten, das sich dann als Aufbruch der männlichen Genies (Fassbinder, Wenders, Kluge, Herzog etc.) inszenierte. Wobei man bei Margarethe von Trotta, den Gregors und bei Edgar Reitz an den Passagen zu seiner zeitweiligen Film- und Lebenspartnerin Ula Stöckl auch jenen Strang verfolgen kann, der sich um den Kampf von Frauen um die Teilhabe an den von Männern für Männer eröffneten neuen Möglichkeiten dreht. Das Strukturelle erkennt man dabei eher im Rücken der Erinnerungen, die sich das eigene Leben in der Gesellschaft als individuelle Sache erklären. Umso interessanter sind dabei jene Individuen und Figuren (selten, wenn nicht niemals die Eltern), die Weichen in Richtung neuer Zukünfte stellen, obwohl sie alten Vergangenheiten entstammen.
Es fällt als gemeinsames Charakteristikum auf, dass in den genannten Erinnerungsbüchern das westdeutsche Kino der fünfziger oder sechziger Jahre, von dem sie sich so abgestoßen zeigen, quasi nicht vorkommt. Bei Werner Herzog ist das kein großes Wunder, da er sich für Kino, das er nicht selbst macht, mit prononcierten Ausnahmen ohnehin kaum interessiert. Margarethe von Trotta sagt über die Jahre, in denen sie sich in Paris mit der Cinephilie infizierte, ganz ausdrücklich: »Wir gingen nicht wegen der Schauspieler ins Kino, sondern wegen der Regisseure. Bergman, Hitchcock, Howard Hawks, John Ford, William Wyler, Billy Wilder … Viele könnte ich noch nennen. Nur deutsche Filme sahen wir nicht, auch keine deutschen Stummfilme.« (Letzteres gilt für Schlöndorff und viele andere allerdings nicht.)
Die jüngere Generation sieht sich in gewisser Weise gar nicht auf demselben Feld, denn mit der Unterhaltungsindustrie, als die sich der deutsche Film begriff und als die er bis zum Einbruch der Zuschauerzahlen aufgrund des Fernsehens auch funktionierte, wollte man so wenig zu tun haben, wie dessen Produzenten und Regisseure ihrerseits meist nicht begreifen konnten, was die bis zum Avantgardismus kunstaffinen jungen Männer vom Kino überhaupt wollten. Ein als solcher wegen übergroßer gegenseitiger Fremdheit von kritischer Seite früh thematisierter, aber lange kaum ausgetragener Konflikt zwischen E und U, dem Trivialen und Hochkultur-Emphase, der der Entwicklung des deutschen Films nicht nur gutgetan hat. Nach und nach wurde die Liebe zu Hollywood über die französische Nouvelle Vague auch nach Deutschland importiert, nahm jedoch nicht nur bei Wim Wenders sehr eigentümlich deutsche Gestalt an.
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