Heft 913, Juni 2025

Durch Mitteleuropa mit dem Zug – die Rail Baltica

von Michaela Maria Müller

Meine Reise beginnt an einem Vormittag Ende Januar 2025. Von Berlin-Gesundbrunnen nehme ich den EuroCity nach Warschau. Ich bereise die Rail Baltica. Ihr Ausbau ist ein Infrastrukturprojekt, das Polen, Litauen, Lettland und Estland per Bahn verbindet. Um das Baltikum an das europäische Bahnnetz anzubinden, werden 870 Kilometer Schienen neu verlegt. Dort wird derzeit noch auf russischer Breitspur gefahren. Seit Anfang des Jahres haben die Länder zunächst einen gemeinsamen Fahrplan.

Von Berlin aus liegen mehr als 3000 Bahnkilometer vor mir, einmal Tallinn und zurück.1 Noch ist die Reise etwas umständlich, was mich nicht abhält: Ich habe Tickets über Teilstrecken bei unterschiedlichen Eisenbahngesellschaften gelöst. Sie bringen mich über Vilnius nach Riga bis Tallinn an die Ostsee.

Von Berlin nach Warschau

Auf dem Triebwagen der polnischen Bahngesellschaft PKP steht in blauer Schrift »Baltic Express«. An der Oder rollt der Zug langsam über den Fluss und seine Auen. In dieser Jahreszeit sind der Boden und die blattlosen Bäume mit ein wenig Schnee bezuckert.

Der Amtsantritt der Regierung Trump II liegt einige Tage zurück. Die Frau des Präsidenten trug einen Hut in Wagenradgröße, der für Aufsehen sorgt. In den sozialen Medien machen noch immer Memes davon die Runde. Aber nicht nur der Hut lässt Böses ahnen. Auf den Plattformen des US-amerikanischen Internetkonzerns Meta sind plötzlich Inhalte, die mit den Hashtags »democrats« und »abortion« versehen sind, nicht mehr auffindbar. Die Nutzer und Nutzerinnen bekommen einen Eindruck, wie Sprache und Information dieser verordneten Vorstellung von Realität untergeordnet werden sollen.

In Zbąszynek, zwischen Frankfurt und Poznań, kommt der Zug außerplanmäßig zum Halten. Informationen werden von Fahrgästen vom Polnischen ins Deutsche und Englische übersetzt und wandern durch die Waggons: Die Strecke bis Poznań ist ohne Strom. Eine Weiterfahrt bis auf Weiteres nicht möglich.

Wir werden nach draußen in Busse gebeten. Am Bahnhofsvorplatz bilden sich lange Schlangen zum Einstieg. Ob die Zahl der Busse für die Wartenden reicht, ist zunächst unklar. Gepäck wird eilig im Busbauch verstaut, Kinderwägen zusammengeklappt, Babys auf den Arm genommen. Alle möchten die Reise fortsetzen, so schnell es geht.

Ich lese während des Wartens über die Geschichte von Zbąszynek. Nach Abschluss des Versailler Vertrags verlief hier die neue Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Polen. Zbąszynek (Neu-Bentschen) und Zbąszyń (Bentschen) waren Grenzbahnhöfe.

Ende Oktober 1938 strandeten 17 000 polnische Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich hier, die bei der von Heinrich Himmler und dem Auswärtigen Amt angeordneten sogenannten Polenaktion deportiert werden sollten.2 Das Land Polen verweigerte jedoch die Einreise. Unter menschenunwürdigen Bedingungen mussten dort Tausende einen Winter lang ausharren. Die Einwohner und Einwohnerinnen von Zbąszyń und jüdische Hilfsorganisationen in Warschau versorgten die Menschen.

Unter ihnen befand sich die Familie Grünspan aus Hannover. Ihr Sohn Herschel war bereits 1936 als Minderjähriger allein nach Paris zu einem Onkel geflüchtet. Dort erreichte ihn am 3. November 1938 eine Karte seiner Schwester Berta, die ihm die desolate Lage in Zbąszyń schilderte. Der siebzehnjährige Grünspan besorgte sich daraufhin einen Revolver, begab sich in die deutsche Botschaft und verübte ein Attentat auf einen Mitarbeiter, der kurze Zeit später an den Folgen verstarb. Die nationalsozialistische Regierung nahm das Attentat als Vorwand für die Novemberpogrome. Die Familie Grünspan wurde im Laufe der Verfolgung auseinandergerissen, Herschels Spur verliert sich 1942.

Wir, die Passagiere des EuroCity, fahren in einer Buskolonne bis Poznań und steigen dort in einen Ersatzzug. Es ist bereits dunkel, als wir Warschau viereinhalb Stunden später als geplant erreichen. Ich verlaufe mich in den Untergeschossen des Bahnhofs Warszawa Centralna, der in eine Etage des benachbarten Einkaufszentrums mündet. An der Schwelle geht die Funktionalität des 1975 fertiggestellten Bahnhofsgebäudes über in die Verheißungen einer hell ausgeleuchteten Warenwelt. Ich versuche, mich dazwischen mit meinem Smartphone zu orientieren, ehe ich endlich den Ausgang finde, der am nächstgelegenen zu meiner Unterkunft ist.

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