Heft 866, Juli 2021

Trennlinien – die Bildungsklassen­gesellschaft der achtziger Jahre

von Michaela Maria Müller

Die Schwestern verließen die Stadt 1981, im Jahr meiner Einschulung. Über hundert Jahre hatten sie Mädchen aus der Gegend unterrichtet. In Bayern galt ab 1802 die Schulpflicht. Die Klassenstärke von etwa siebzig Schülerinnen und Schülern war beachtlich, die pädagogischen Fähigkeiten der Schwestern und ausgedienter oder invalider Militärs waren aus heutiger Sicht sicherlich begrenzt. Nach sechs, später sieben Jahren war es außerdem verpflichtend, im Anschluss an den Sonntagsgottesdienst noch für drei Jahre die Feiertagsschule zu besuchen, um die sogenannte Christenlehre des Katechismus zu studieren.1

Erst ein halbes Jahrhundert nach der Ankunft der Schwestern 1854 waren Trinkwasserleitungen gelegt und elektrisches Licht auf zwei Fluren angebracht worden. Wirklich willkommen hatte man sie nie geheißen, Arbeit ging vor Bildung. Bildung stahl nur die Zeit und verstellte den Blick auf das, was man für wichtig hielt.

Im angrenzenden Kindergarten hatte ich von den letzten drei Schwestern noch eine kennengelernt. Sie war unsere Erzieherin. Wir sprachen sie mit »Schwester Dulcedia« an. Sie trug einen schwarzen Habit und einen Schleier, alles aus einer schier unendlichen Menge von Stoff, sowie eine weiße, eckige Haube auf dem Kopf, die die Stirn streng einfasste.

Grundschule

Durch die Mitte des taubenblauen Schulgebäudes lief eine Symmetrieachse, die die Eingangstür des dreigeschossigen Hauptgebäudes in zwei Hälften teilte. Rechts und links wurde es von niedrigeren, zweigeschossigen Nebengebäuden flankiert, die ihm beisprangen wie zwei gebückte Lakaien. Achtfach unterteilte Kastenfenster nahmen der Symmetrie die Strenge. Auf jedem Gebäudeteil schob sich ein Mansarddach wie ein breitkrempiger Hut weit nach vorn. Mauervorsprünge, die sich wie Geschenkbänder um das ganze Ensemble schlangen, schienen es zusammenzuhalten.

Ich zähle auf dem alten Klassenfoto durch. Neun von uns wechselten am Ende der Zeit aufs Gymnasium, elf auf die Hauptschule, zwei auf die Sonderschule. Während für uns der Unterschied zwischen Hauptschule oder Gymnasium noch keine große Rolle zu spielen schien, war der zwischen Haupt- und Sonderschule schon damals eklatant. Hauptschule war okay, ein sicheres Ticket, das den Jungen den Eintritt in einen Handwerksberuf, den Mädchen eine Ausbildung zur Arzthelferin oder im Einzelhandel garantierte. Sonderschule jedoch war ein Makel, etwas mit dem gedroht wurde, wenn man mit schlechten Noten nach Hause kam. Bei dem Kompositum »Sonderschule« lag die Bedeutung von »Sonder« nämlich nicht darauf, dass jemand besonders war. Es ging um ab-sondern, um Isolation, um Ausschließen. Vor was konnte man als Zehnjährige mehr Angst haben?

Es traf zwei in unserer Klasse. Einer davon war U. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun. Er war klein, wild und hatte leuchtend rote Haare. Ich wusste auch nicht viel über ihn, außer dass er mit dem Anwaltssohn und dem Sohn des Heizöllieferanten auf dem Pausenhof abhing und auf jeder Klassenarbeit zuverlässig eine vier, fünf oder sechs hatte. M. hingegen kannte ich besser. Wir hatten bereits den Kindergarten gemeinsam besucht und lebten im gleichen Dorf. Sie hatte keine Mutter und einen Vater, der immer auf Arbeit war. Erzogen wurde sie von einer griesgrämigen, missgestimmten Großmutter, deren schlechte Laune in jede Ecke ihres Hauses drang. Über den Verbleib der Mutter erfuhren wir nie etwas, weder von ihr, erst recht nicht von der Großmutter und auch nicht von den eigenen Eltern, die – was selten vorkam – mitleidig seufzten, wenn sie von ihr sprachen. M. wurde Wäscherin in einer Reinigung. Sie bekam früh ein Kind, für das das Jugendamt die Vormundschaft übernahm. Es hieß, sie habe oft versucht, ihr Kind zurückzubekommen, geklappt hat es nie.

Mit meinen Noten hätte ich auf das Gymnasium wechseln können, aber meine Eltern, die beide einen Hauptschulabschluss hatten, wollten es nicht. Es war ihnen fremd, dass ihr Kind dort hingehen könnte. Vielleicht fürchteten sie, dass ich es nicht schaffen könnte und sie mir nicht würden helfen können. Vielleicht wollten sie mich instinktiv vor der Fremdheit bewahren, die mich heute tatsächlich immer wieder einholt, nirgendwo dazuzugehören. Zugleich hatte ich mit meinem Verzicht einen Platz für jemanden freigemacht, der schlechtere Noten, aber ehrgeizigere Eltern hatte als ich.

Natürlich hatte es schon vorher Unterschiede gegeben, auch wenn sie in der Grundschule noch nicht so schwer wogen. Hochdeutsch sprachen die, die aus Angestellten- und Akademikerfamilien stammten. Wer Dialekt sprach, kam vom Land. Und ich erinnere mich noch an mein Erstaunen, als ich mich auf dem Pausenhof mit einer neuen Mitschülerin unterhielt. S. war in der Türkei geboren, mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und sprach breites Schwäbisch. Wir würden bis zum Ende der Schulzeit den gleichen Weg gehen. Die Frage nach der Religion spielte im Schulalltag eine kleine Rolle. Katholische Kinder, die Mehrheit, und evangelische Kinder hatten getrennten Religionsunterricht. Muslimische, meist türkische Gastarbeiterkinder, und orthodoxe, meist griechische Gastarbeiterkinder, hatten Ethik.

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