Heft 877, Juni 2022

Von der Hegemonie des Hochdeutschen, Sprachvarietäten und Klasse

von Michaela Maria Müller

Dialekte gab es immer, aber erst in der jüngeren Sprachgeschichte, seit Ende des 19. Jahrhunderts, begann man im deutschsprachigen Raum mit ihrer Bewertung. Es verbreitete sich der Glaube, in Norddeutschland, besonders um die Gegend von Hannover, werde das »bessere« Deutsch, das Hochdeutsche, gesprochen.

Die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner zum Beispiel schrieb in ihren Erinnerungen: »Was mir an den Norddeutschen besonders wohlgefiel, war die Sprache […], weil sie mir, im Vergleich mit der in Österreich üblichen Redeweise, ein höheres Bildungsniveau zu bekunden schien; oder vielmehr, nicht nur schien, sondern in der Tat bekundete […] Wenn man Menschenwert nach der Bildungsstufe misst – und welchen richtigeren Maßstab gäbe es wohl als diesen?, so ist der Norddeutsche um ein Stückchen mehr Mensch als der Süddeutsche.«1

Wo ich herkomme, aus dem Süddeutschen nämlich, sagt man »arwan« und »dorat«, und jemand ist nicht geizig, sondern hat den »Ruach im Gnack«, was man sich so vorstellen kann, dass einer Person der Geiz wie ein Kobold auf der Schulter sitzt und ihr Dinge ins Ohr flüstert. Im Hochdeutschen beschreibt ein einziges Wort einen Wesenszug, im Dialekt ist es ein Bild. Ich mag es. Für mich ist mein Dialekt ein Erfahrungs- und Erinnerungsraum, den das Hochdeutsche nicht erreicht, er öffnet mir emotionale Räume.

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