Entfesselte Exekutive
Was Trump (für postliberale amerikanische Juristen) rechtfertigt von Jan-Werner MüllerWas Trump (für postliberale amerikanische Juristen) rechtfertigt
Seit zehn Jahren diskutieren wir inzwischen die Frage: Ist Trumpismus eine eigenständige, substanzielle Ideologie? Oder schlicht eine Spielart von Rechtspopulismus, bei der ein für Außenstehende schwer nachvollziehbarer Persönlichkeitskult besonders ausgeprägt ist? Handelt es sich um die systematische Durchsetzung eines Südstaatenrassismus, der nie ganz aus der amerikanischen politischen Kultur verschwunden war, aber scheinbar klar auf der Verliererseite der Geschichte stand? Oder ist Trumpismus vielleicht gar keine Frage von irgendwie gearteten Gesellschafsbildern, sondern ein Set von Taktiken, um die Schwächen vieler amerikanischer Institutionen – seien es politische Parteien oder das Mediensystem – gnadenlos auszunutzen?
An all diesen Perspektiven ist etwas dran. Sie erklären aber kaum ein spezifisches Kennzeichen der zweiten Amtszeit Trumps: die enorme Konzentration von Macht in den Händen eines Mannes und das offensichtliche Ende von etwas, auf das sich amerikanische Verfassungsrechtler oft besonders viel einbildeten – die Gewaltenteilung. Resultiert diese Machtballung aus dem rücksichtslosen Vorgehen eines Autokraten in spe, der sich halt beim zweiten Versuch sehr viel geschickter anstellt (und dem diesmal loyale und kompetente Leute zuarbeiten)? Oder gibt es auch einen Plan oder gar eine explizite Rechtfertigung seitens von Rechts- und Sozialwissenschaft? Es gibt sie in der Tat, und wer sie verstehen will, muss die spezifische Ausprägung einer Gedankenströmung verstehen, die sich auch seit gut zehn Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks finden lässt: der sogenannte Postliberalismus.
Postliberalismus – mehr als kommunitaristische kosmetische Korrekturen am Liberalismus?
Den postliberalen Auftakt in den USA machte das auch in Deutschland bekannt gewordene Buch des politischen Theoretikers Patrick Deneen.1 2018 legte der an der katholischen Universität Notre Dame lehrende Wissenschaftler einen Essay vor, in dem er zu erklären versuchte, warum der Liberalismus gescheitert sei.2 Die Pointe seiner Antwort: Der Liberalismus sei in gewisser Weise gar nicht gescheitert; die katastrophalen Charakteristika unseres Zeitalters resultierten vielmehr daraus, wie umfassend ihm die Befreiung der Individuen von allen nicht selbst gewählten Zwängen gelungen sei. Deswegen lebten wir heute in einer kulturlosen Welt (Deneen versuchte, den Begriff anticulture als Zeitdiagnose zu verbreiten; viel Resonanz erfuhr er nicht). Es gäbe, so Deneens Lamento weiter, keine authentischen Gemeinschaften mehr;3 außerdem stünden die Einzelnen, statt sich ihrer vom Liberalismus erfochtenen Autonomie zu erfreuen, letztlich schutzlos einem Staat gegenüber, der – und auch das im Namen des Liberalismus – alle verbliebenen nichtliberalen Lebensformen zerstöre.
Bei Deneen fanden sich Gedanken, die jedem, der mit kulturpessimistischen Strömungen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts vertraut ist, sattsam bekannt vorkommen mussten; auch viel von dem, worüber Kommunitaristen in den USA während der achtziger Jahre geklagt hatten, wurde recycelt. Ungewohnt – wenn auch nicht ganz neu – war die These, bei Linken und Rechten in den Vereinigten Staaten handele es sich schlicht um unterschiedliche Spielarten von Liberalismus; beide erachteten schließlich Freiheit – sei es Freiheit von Regulierung der Wirtschaft oder Freiheit von kulturellen Fesseln bei der individuellen Selbstverwirklichung – als das höchste menschliche Gut. Auch wenn es wohl kaum das Hauptanliegen des Buches war, offerierte Deneen somit auch eine Version von amerikanischem exceptionalism. Der enorm einflussreiche Historiker Louis Hartz hatte bereits in den fünfziger Jahren die These vertreten, die USA, als eine Gesellschaft, in der niemals Feudalismus geherrscht habe, kennten eigentlich nur den Liberalismus; alle Amerikaner seien irgendwie Anhänger von John Locke.4 Auch wenn Geschichtswissenschaftler diese Erzählung eines country born liberal heute mit großer Skepsis sehen: Unter ganz anderen Vorzeichen tischte sie Deneen noch einmal auf.
Am Ende seiner Tirade blieb dem Politischen Theoretiker nur eine defätistische Haltung angesichts der »antikulturellen« Hegemonie – und die Empfehlung, sich in lokale, illiberale Gemeinschaften zurückzuziehen; Hinweise auf Tocqueville und viel amerikanischer Kleinstadtkitsch konnten jedoch kaum davon ablenken, dass eine Art Flucht aufs Land angesichts des vermeintlich allmächtigen, letztlich alles zerstörenden Liberalismus wohl kaum eine effektive Gegenstrategie sein konnte.
Andere Vertreter einer sich nun bewusst »postliberal« nennenden Strömung wollten sich nicht mit einer Art innerer Emigration abfinden. Sie forderten eine strategische nationale Industriepolitik, das Ende von Einwanderung und mehr Beihilfen für Familien – in der Hoffnung, die Republikaner könnten sich zu einer konservativen Arbeiterpartei entwickeln. Dies erklärt auch, warum Postliberale zunehmend Gefallen am Regime Viktor Orbáns fanden; dieser – so meinten sie – setze die Nation an die erste Stelle, statt sich dem neoliberalen Globalisierungsdruck zu fügen; er fördere mit staatlichen Mitteln konsequent natürliche Gemeinschaften, allen voran die Familie, mit staatlichen Mitteln und halte die Grenzen dicht. Nicht zuletzt entreiße er die Hochschulen und die ganze Bildungspolitik den vermeintlich hegemonialen Linksliberalen – was einmal von dem bekennenden Postliberalen J. D. Vance zum Vorbild für die USA erklärt wurde. Der Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols, um illiberale Ideen durchzusetzen, famille, patrie, travail – das rechtfertigten die Postliberalen zunehmend, ohne jedoch klar zu sagen, wie weit man die weltanschauliche Neutralität des Staates zugunsten eines kommunitaristischen oder gar eindeutig christlichen Ethos zurückzudrängen gedachte.5 Es fehlte eine umfassende politische Theorie.
Ein halbes Jahrzehnt nach seinem Überraschungserfolg versuchte sich Deneen an einer. In dem 2023 erschienen Regime Change forderte er nun eine konservative Elite auf, beherzt die Macht im Staat zu ergreifen.6 Sie sollte dies tun zugunsten der vermeintlich einfachen, stets von den liberalen Eliten gegängelten Leute. »Aristopopulismus« taufte Deneen diese Allianz aus konservativen Aristoi – also, im ursprünglichen griechischen Sinn, den Besten, die ein Land zu bieten habe – und den common people. Letztere wollten eigentlich nur »Stabilität« und »Kontinuität« – sprich: sie waren instinktiv Konservative – und hätten auch das Herz am rechten Fleck – sprich: traditionelle Moralvorstellungen; sie wüssten sich aber ohne antiliberale Eliteeinheiten einfach nicht zu helfen.
Wie genau dieses neue Regime etabliert werden würde, blieb weitgehend unklar; was genau nach dem regime change passieren sollte, war bei Deneen auch nicht zu lesen; da fand sich allenfalls ein Sammelsurium von Policy-Vorschlägen (Hilfe für Familien, etc.), für die es den ganzen kulturpessimistischen Aufwand – und auch das Zusammenklauben von Ideen aus der Geschichte des politischen Denkens, bei Aristoteles angefangen – nicht gebraucht hätte. Es fehlte weiterhin ein kohärenter begrifflicher (und letztlich normativer) Rahmen für das postliberale »Regime«.
Auffallend war allerdings, dass Deneen sich nun einer politischen Sprache bediente, die in seinem früheren Werk kaum eine Rolle gespielt hatte. Nicht weniger als neunundsechzig Mal erwähnte Deneen in seinem Buch das »Gemeinwohl« – und bezog sich bei seiner Rede von Common Good Conservatism offensichtlich auf einen prominenten Rechtswissenschaftler, der ein Jahr vor Regime Change einen schmalen Band vorgelegt hatte; dieser sollte, noch weit mehr als Deneens antiliberale Tiraden, heftige Debatten entfachen: Adrian Vermeules Common Good Constitutionalism.
Rational willkürlich, voll ins Risko gehend
Adrian Vermeule ist eine einzigartige Erscheinung in der amerikanischen Geisteslandschaft. Der in Harvard lehrende Jurist war lange als ein brillanter, wenn auch oft extrem technokratisch argumentierender Spezialist für amerikanisches Verwaltungsrecht bekannt – heute ist er als bekennender antiliberaler Adept Carl Schmitts verschrien, ja gar als katholischer Integralist, der die Trennung zwischen Staat und Kirche aufheben möchte. Vermeule selber facht Kontroversen um seine Person nach Kräften an – mit Posts in den sozialen Medien, die man kaum anders als trolling the libs bezeichnen kann, oder mit frivolen Essays, die seine politischen und intellektuellen Gegner offenbar zur Weißglut treiben sollen.
So forderte er 2023, angesichts der Polarisierung und allgemeinen Lähmung der amerikanischen Politik sei es an der Zeit, wie die italienischen Stadtrepubliken der Renaissance eine Art Diktator auf Zeit zu installieren, einen Podestà – also einen Fremden, der politische und rechtliche Macht in seinen Händen vereinigen und die Dinge in der Republik in Ordnung bringen sollte. Wer sich durch Vermeules Links klickte, erfuhr schließlich, dass er auch einen konkreten Kandidaten im Sinn hatte: keinen Geringeren als Eduard Habsburg-Lothringen, derzeit Botschafter Ungarns beim Vatikan.7
Solche Scherzchen überraschten angesichts der technokratisch-trockenen Art, in der Vermeule früher seine zahlreichen Fachaufsätze und Bücher – die, wie bei so vielen amerikanischen law professors, in rapider Abfolge erscheinen – präsentiert hatte. Er hatte immer wieder aufs Neue die relative Autonomie des Verwaltungsstaats gerechtfertigt; Behörden sollten keinen Einmischungen seitens des Kongresses ausgesetzt sein und sich auch nichts von Gerichten vorschreiben lassen – denn jenen Institutionen fehle es an Expertise, um das Vorgehen einer Verwaltung angesichts hochkomplexer Herausforderungen beurteilen zu können.
Vermeules Theorien deckten sich durchaus mit der Rechtsprechung. In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1984 hatte der Oberste Gerichtshof die Auffassung vertreten, Behörden hätten viel Spielraum bei der Auslegung von Gesetzen; solange diese Auslegungen »vernünftig« seien, sollten sie nicht von der Justiz infrage gestellt werden. Damit war eine Antwort gegeben auf eine Herausforderung an die moderne Demokratie, die wir spätestens seit Max Weber kennen: Überlassen die Legislativen nicht den Bürokratien zu viel Macht, so dass sich das Handeln des Verwaltungsstaats immer weniger auf einen irgendwie erkennbaren Volkswillen zurückführen lässt? Ist Beamtenherrschaft – egal wie professionell – nicht Willkürherrschaft?
Angesichts der schieren Komplexität von Sachproblemen gab es für Vermeule schlicht keine Alternative zur umfassenden Ermächtigung des Verwaltungsstaats – und die amerikanische Rechtsprechung sah es eben lange nicht anders. Teil dieser (legitimen) Eigenlogik der Verwaltung war zudem, dass Beamte, die unabhängigen Behörden vorstehen, nicht einfach vom Präsidenten entlassen werden können. Wobei – eine der ersten provokanten Pointen Vermeules – man natürlich auch verstehen müsse, dass Beamte ab und an dezisionistisch agierten. Man könne nicht alle Entscheidungen bis ins Letzte rational rechtfertigen; man müsse einfach das »rational Willkürliche«, das in einem Verwaltungsstaat unvermeidlich sei, als legitim akzeptieren. Damit seine Kollegen ihn nur ja richtig verstanden, gab er einem seiner Aufsätze den Titel: »Unser schmittianisches Verwaltungsrecht«.8
Vermeules Kritik galt nicht nur dem vermeintlich naiven Wunsch der Liberalen, alles bis ins Letzte zu verrechtlichen. Was ihnen gleichzeitig abgehe, sei Risikobereitschaft. Die stets ängstlichen liberalen Rechtstheoretiker erklärten ihm zufolge die Verhinderung von Machmissbrauch zum obersten Ziel; Vermeule hielt ihnen entgegen, dass man jedem Staatdiener, der überhaupt irgendetwas Vernünftiges täte, im Zweifelsfall wohl irgendeine Form von Machtmissbrauch nachweisen könne. Auch konstituierte der Titel eines Aufsatzes in einer rechtswissenschaftlichen Zeitschrift eine klare Abgrenzung vom Gegner und die Kampfansage: »Optimaler Machtmissbrauch«.9
Eine weitgehend autonome, ins Risiko gehende, ja gar fehlerwillige Exekutive verteidigte Vermeule besonders lautstark in Zeiten des »Globalen Kriegs gegen den Terror« (Zeiten, die noch gar nicht so lange her sind und die vieles an unserer Gegenwart erklären – die aber auf merkwürdige Weise fast aus dem Bewusstsein verschwunden sind). In Situationen außergewöhnlicher Bedrohung müsse ein amerikanischer Präsident schnell und auf eigene Faust handeln können; die vor allem von James Madison verfochtene Vorstellung eines Systems von checks and balances sei passé in einer immer komplexeren und schnelllebigeren Welt. Man sollte sich vielmehr an einem anderen Gründervater orientieren, nämlich Alexander Hamilton, der »Energie« in der Exekutive gefordert hatte.10 So machten sich Vermeule und sein zeitweiliger Ko-Autor Eric Posner offiziell zu Advokaten einer »entfesselten Exekutive«.11 Aber ganz und gar ungebunden sollte die zweite Gewalt dann doch nicht sein. Statt jedoch auf die konventionelle separation of powers zu setzen, sollte man sich auf die öffentliche Meinung als ultimativen check verlassen; diese würde einen auf irgendeine Weise illegitim agierenden Präsidenten letzten Endes effektiv in die Schranken weisen.
Diese Hoffnung hatte etwas rührend Naives angesichts der Fragmentierung der amerikanischen Öffentlichkeit sowie der eklatanten Pathologien des US-Mediensystems;12 hier kann sich schon lange kaum mehr eine kohärente public opinion herausbilden oder sich klar positionieren gegen eine Exekutive, die im Zweifelsfall immer einen großen Informationsvorsprung reklamieren und ihr Vorgehen mit allerlei Notständen rechtfertigen kann.13 Ohnehin sollten dann aber in Vermeules weiteren Schriften Beschränkungen dieser Art so gut wie gar keine Rolle mehr spielen; die Vorstellung, Rechtsstaatlichkeit brauche Gewaltenteilung, wurde vollends verabschiedet.
Die Zauberformel: »Gemeinwohl«
2020 veröffentlichte Vermeule im eher liberal ausgerichteten Magazin Atlantic eine Art Teaser für seine neue Verfassungstheorie;14 2022 erschien dann ein relativ schmaler Band, der nicht nur breit diskutiert, sondern auch zu einem Faszinosum für Vermeules erklärte Gegner wurde; beim ersten Lesen war ihre Frage, wie genau der Jurist, der 2016 zum Katholizismus übergetreten war, seinen Integralismus – oder gar, in den Augen der schärfsten Kritiker: Klerikalfaschismus – so verpacken konnte, dass er nicht sofort den rechtswissenschaftlichen Mainstream in den USA abschrecken würde.
Teil der Antwort: Vermeule positionierte sich geschickt gegen Konservative und Liberale (im amerikanischen Sinn) gleichzeitig. Der Interpretationsansatz der Konservativen – Originalism – sei im Grund nur ein Vorwand, um libertäre Wirtschaftsvorstellungen durchzusetzen; er sei an sich widersprüchlich, weil die Verfassungsväter selber eben gerade keine Originalists gewesen seien; sie hätten nicht gedacht, dass die Verfassung einzig im Sinn ihrer Bedeutung in den 1780er Jahren zu verstehen sei. Die Liberalen hingegen würden willkürlich ihre moralischen Ideale in den Verfassungstext hineininterpretieren – sie hätten allerdings Recht mit der Vorstellung, dass die Verfassung eine Art von Moralität enthalte. Nur sei diese nicht zu verstehen ohne das, was Vermeule als die »klassische Tradition« (oder auch ius commune) des Westens bezeichnete. Diese Tradition – eine Synthese aus römischem Recht, kanonischem Recht und »lokalem Zivilrecht« – mache das Gemeinwohl zum Ausgangspunkt jeden legitimen Verfassungsrechts (statt, wie die Liberalen, den Schutz von Freiheit an erste Stelle zu setzen).
Der Jurist Jannis Lennartz merkte einmal treffend an, Vermeule gleiche einem amerikanischen Touristen in einem europäischen Antiquitätengeschäft – da suche sich jemand ganz viele Objekte zusammen, die aus Sicht lokaler Beobachter nicht unbedingt zusammenpassten und auch keine tatsächliche geschichtliche Entwicklung reflektierten.15 Mit ostentativem Bildungsaufwand (und vielen lateinischen Zitaten) wurde das so entstandene Konstrukt aber dann auf dem heimischen Markt als »klassisch« verkauft.
Vermeule deklarierte seine »klassische Tradition« zur eigentlichen Inspiration für die Männer der Amerikanischen Revolution (ohne dafür irgendwelche historischen Belege anzuführen). Das bedeutet auch: Grundrechte wie die Bill of Rights durften nicht so sehr als Beschränkungen der Staatsgewalt (oder gar als Trumpfkarten im Streben nach individueller Autonomie), sondern mussten immer schon im Licht einer substanziellen Vorstellung des Gemeinwohls verstanden werden. Dieses sei »einheitlich und unteilbar«; es handele sich nicht um ein Aggregat von individuellem Nutzen (wie es die schnöden Vorstellungen der Liberalen angeblich nahelegten).
Selbstverständlich rechtfertigte das Gemeinwohl auch einen robusten Einsatz von public power (ganz so, wie es Viktor Orbán vorexerziert hatte). Dazu brauchte es natürlich – hier konnte Vermeule nun an seine früheren Überlegungen anknüpfen – eine starke Verwaltung, deren Vorgehen eben nicht von Gerichten und der Legislative hinterfragt werden sollte. So zitierte der Harvard-Jurist denn auch einen seiner jungen spanischen Adepten mit dem Satz: Imperare Aude! Also: Trau Dich zu herrschen!16
Nur: Was genau heißt es, im Namen des Gemeinwohls zu herrschen? Klar war, dass Vermeule, wie seine postliberalen Mitstreiter, einem libertären Verfassungsverständnis (und einer Haltung von »Konservatismus gleich Deregulierung über alles«) eine klare Absage erteilte. Aber die genaue Bestimmung (determinatio) von Gemeinwohl schien höchst kontextabhängig; viel Konkretes ließ sich aus »Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand« (so Vermeules eigene Spezifizierung von Gemeinwohl) nicht ableiten.17
Zwar kokettierte Vermeule in gewohnter Manier mit einigen Anspielungen darauf, wie man sich aus Sicht eines strengen Katholiken die Umsetzung des Gemeinwohls vorzustellen habe: Das Recht auf Meinungsfreiheit decke keineswegs Pornografie ab; Abtreibung sei zu verbieten, allerdings gelte es auch, Umweltschutz konsequent durchzusetzen.
Das eigentlich Provokante an Vermeules Auslassungen ist aber, dass sich aus seinem common good constitutionalism keine Vorgabe für ein bestimmtes politisches System ergibt. Jedes Regime, das dem Gemeinwohl diene, sei legitim, so der Jurist; vor allem solle man sich nicht einbilden, allein die zeitgenössische repräsentative Massendemokratie sei irgendetwas Besonderes aus Sicht des common good constitutionalism. In einem – wohl wieder mal bewusst skandalträchtig angelegten – Aufsatz präsentierte Vermeule den römischen Kaiser, umgeben von strikt am Gemeinwohl orientierten Beratern und Beamten, als ein Beispiel gelungener Herrschaft. Mit einer betont populistischen Note behauptete er, das römische Volk habe sich durch die lex regia mit dem Kaiser gegen die Optimaten – sprich: die korrupten liberalen Eliten – verbündet und so ein legitimes Regime geschaffen (Vermeule setzte noch eins drauf, indem er im selben Essay das traditionelle Verständnis eines guten chinesischen Kaisers ebenfalls anpries).18
Auf den ersten Blick wird hier die uralte Wunschvorstellung eines wohlwollenden, stets umsichtig für sein Volk agierenden Alleinherrschers bedient. Und auf den zweiten Blick auch: Denn Vermeule versichert felsenfest, diese Art von Regime müsse auch als rechtsstaatlich verstanden werden. Es sei eine typisch liberale Illusion, Rechtsstaatlichkeit mit Gewaltenteilung gleichzusetzen; auch beim Kaiser habe Legalität geherrscht (denn dieser habe gleichzeitig unter und über dem Recht gestanden – was immer das heißen mag). Offenbar war auch hier die Annahme, ein nicht so wohlwollender Herrscher werde irgendwann vom Volk – oder eben der öffentlichen Meinung – eingehegt (oder vielleicht verjagt) werden. Und auch hier galt offenbar wieder: Besser das Risiko von Machtmissbrauch eingehen, als sich mit korrupten Optimaten abzufinden.
Das offensichtliche Argument gegen die ganze Konstruktion des common good constitutionalism, es herrsche aber stets Streit um den Inhalt des Gemeinwohls, wischt Vermeule nonchalant vom Tisch. Da gebe es doch viel mehr Konsens, als die Liberalen meinten (die angeblich das Verhalten im Seminarraum, wo es eine Prämie auf clevere Meinungsverschiedenheiten gebe, auf die Gesellschaft als Ganze projizierten). Schließlich konzedierte Vermeule dann allerdings auch, gut dezisionistisch: Bei den ganzen Bedenkenträgern falle ihm irgendwann auch nichts mehr ein, als den Leuten zu empfehlen, halt nicht liberal zu sein.
Kann sich Vermeule über eine Verwirklichung seiner Vision in der amerikanischen Gegenwart freuen? Auf den ersten Blick ganz und gar nicht. Der Oberste Gerichtshof hat die Rechtsprechung im vergangenen Jahr grundlegend geändert; statt erst einmal anzunehmen, dass Behörden vernünftig agieren beziehungsweise darauf zu vertrauen, dass es innerhalb des Verwaltungsapparats selber auch effektive checks and balances gebe, besteht der Supreme Court nun darauf, dass Gerichte die Gesetzesauslegungen von Behörden systematisch überprüfen (entgegen aller von Vermeule vertretenen – und an sich sehr plausiblen – Thesen behauptete der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, John Roberts, Juristen hätten die notwendige Expertise, um hochkomplexe regulatorische Entscheidungen beurteilen zu können).19 Vor allem für den Umweltschutz könnte die neue Rechtslage verheerende Wirkungen haben (wobei diese allerdings schon dadurch eintreten, dass Trump die relevanten Behörden von innen her aushöhlt).
Aber nicht nur das: Der Supreme Court hat auch den Schutz von Beamten vor parteipolitisch motivierter Entlassung seitens des Präsidenten, der seit den dreißiger Jahren gegolten hatte, de facto aufgehoben. Die explizite Ausnahme: die Zentralbank, was allerdings Trump nicht von dem Versuch abgehalten hat, eine Gouverneurin der Federal Reserve unter fadenscheinigem Vorwand zu feuern. Mit dieser Politisierung der Geldpolitik geht die Trump-Regierung enorme Risiken ein – und dies sind wohl kaum die Risiken, die sich Vermeule unter »optimalem Machtmissbrauch« vorgestellt hatte.
Das alles scheint ihn aber nicht wirklich anzufechten. Er selber hat die Auswirkungen der jüngsten Rechtsprechung des Supreme Court heruntergespielt; und der massive Verlust von Expertise und Professionalität in der amerikanischen Verwaltung ist offenbar akzeptabel, solange der vermeintlich wohlwollende Alleinherrscher ein von Konservativen für absegnungswürdig erachtetes Gemeinwohl verfolgt. Schon vor Jahren hatte Vermeule dazu aufgerufen, den Staat von innen her zu transformieren; Antiliberale sollten, nach einer Art langem Marsch durch die Institutionen, wichtige Ämter besetzen und die Staatsgewalt dann systematisch gegen die Liberalen einsetzen. Das beinhaltet offenbar die Gängelung von angeblich »woken« Universitäten, großen, vermeintlich irgendwie progressiven Anwaltskanzleien und Medienunternehmen mit – das kann man ja immer sagen – »liberal bias«. Die Trumpisten folgen also in der Tat Orbáns »Modell«, und das Versprechen, das konservative Gemeinwohl irgendwann mit den eigenen Leuten umzusetzen, rechtfertigt offenbar alle Verluste an Expertise und Professionalität, die vor allem ein Kahlschlag in den Behörden verursacht (von eklatanten Grundrechtsverletzungen nicht zu reden).
Bereits in seinem Büchlein zu Common Good Constitutionalism hatte Vermeule einerseits die klassisch katholische Idee von Subsidiarität verteidigt; dann aber umgehend hinzugefügt, dass unter Umständen eine starke Zentralgewalt vielleicht doch im Namen des Gemeinwohls die Macht an sich ziehen müsse, ja sogar eine Diktatur gerechtfertigt sein könnte. Logisch ist die Verbindung zwischen Gemeinwohl-Theorie und entfesselter Exekutive nicht – aber empirisch ist sie offenbar immer der plausibelste Weg, um irgendeine Vorstellung von salus populi durchzusetzen. Solange man den vermeintlich wohlgesinnten Alleinherrscher und willige Erfüllungsgehilfen für ihn findet.
Postliberal gleich antiliberal … und undemokratisch
Postliberale kritisieren Liberalismus – was sonst? Die interessante Frage ist, wie viel sie von dem, was historisch durchaus als spezifisch liberal bezeichnet werden kann, in ihre mehr oder weniger spezifizierten politischen Visionen noch hinüberretten wollen – oder können. Bei einigen ist Postliberalismus im Grund nur etwas kommunitaristische Kosmetik – nicht verboten, aber eben auch nicht viel anders als das, was schon in den achtziger Jahren als Forderung nach mehr Gemeinschaft und irgendwie weniger Individualismus ausgiebig diskutiert wurde (was nicht heißen soll, dass die Neuorientierung von einflussreichen, sich als konservativ verstehenden Intellektuellen und Politikern weg vom Libertären nicht wichtig wäre – die Frage ist nur, ob es dafür wirklich einen parteipolitischen Rückhalt gibt; bisher halten sich die großen rechten Geldgeber in den USA beim working class conservatism merkwürdigerweise sehr zurück …).
Andere – und hier ist Vermeule zweifelsohne das wichtigste Beispiel – wagen wirklich den Bruch. Natürlich sind Verfassungen nicht per se liberal. Aber wenn sie nur im Entferntesten etwas mit der Zügelung von Macht zu tun haben sollen – und nicht nur Wünsch-dir-was-Dokumente mit Labels wie »Gemeinwohl« sind –, dann ist die Vermeulesche Theorie eigentlich gar nicht constitutionalism.
Vermeule hat denn auch per Tweet verlauten lassen, die Gerichte dürften die »legitime Macht« der Trumpschen Exekutive nicht kontrollieren – ein Post, dem der Vizepräsident enthusiastisch beipflichtete. Aber wer entscheidet darüber, was an Macht der Exekutive »legitim« ist? In der geschriebenen Verfassung steht, Ausgaben dürften nur vom Kongress beschlossen werden; Trump hat sich völlig darüber hinweggesetzt. Eine spezifische, letztlich völlig antipositivistische Vorstellung von Gemeinwohl mag etwas anderes suggerieren. Aber man kann dann in eine Konzeption von Gemeinwohl hineinpacken, was man will – und das Paket mit den höchsten Weihen ausstatten (vor allem, wenn man an den Wahlurnen keine Mehrheit zusammenbekommt).
Dem Schmittianer Vermeule darf man vielleicht ein Zitat eines anderen großen Staatsrechtlers aus der Weimarer Zeit entgegenhalten. Gustav Radbruch bemerkte einmal, »Volk« müsse unvermeidlich ein Inbegriff streitender Parteien sein, solange nicht ein Engel vom Himmel uns die untrügliche Offenbarung des Allgemeinwohls gebracht habe. Er fuhr fort: »Dieser Relativismus, der die verschiedenen Parteiauffassungen vom Allgemeinwohl nicht als beweisbar richtige oder unrichtige Feststellungen, sondern als unbeweisbare und unwiderlegbare Stellungnahmen betrachtet, ist die Grundlage demokratischen Denkens.«20 Vermeule bietet eine gegenteilige Grundlage an. Dieser Postliberalismus ist nicht nur, klar, antiliberal; er ist auch zutiefst undemokratisch.
In Großbritannien gab es schon etwas früher postliberale Strömungen mit Versuchen, beide große Parteien mehr kommunitaristisch auszurichten (Blue Labour, Red Tories). Mit der Ausnahme John Milbanks spielten allerdings theologische Rechtfertigungen von Postliberalismus kaum eine Rolle; außerdem wandten sich die britischen Postliberalen gegen eine Konzentration von Macht; eher wollten sie Macht auf eine fast schon mittelalterliche Weise differenzieren und dezentralisieren. Wichtige Vertreter dieser Strömung betonten aber auch immer wieder, sie wollten an die besten liberalen Traditionen anschließen – vgl. beispielsweise Adrian Pabst, Postliberal Politics. The Coming Era of Renewal. Cambridge: Polity 2021.
Patrick Deneen, Why Liberalism Failed. New Haven: Yale University Press 2018.
Wie so häufig bei derlei Rhetorik wurde authentisch mit traditionell gleichgesetzt; alle Bindungen, die keinen konventionellen Schemata entsprechen, müssen dann automatisch als unauthentisch verstanden werden.
Louis Hartz, The Liberal Tradition in America. New York: Harvest 1991.
Ein Standardargument antiliberaler Denker ist, dass die liberale Neutralität eh geheuchelt sei; der Liberalismus toleriere eigentlich nur Weltanschauungen, die mit dem Ideal liberaler Autonomie kompatibel seien. Daraus folgt dann oft, salopp gesagt: Wenn alle irgendwie intolerant sind, kommt’s auf die eigene Intoleranz auch nicht mehr an.
Patrick Deneen, Regime Change. Toward a Postliberal Future. New York: Sentinel 2023. Vgl. hierzu auch Albrecht Koschorke, Postliberalismus und Elitentausch. In: Merkur, Nr. 912, Mai 2025.
Adrian Vermeule, America Needs A Podestà: Controlling the violence of faction, Italian style. In: The New Digest vom 15. August 2023 (thenewdigest.substack.com/p/america-needs-a-podesta).
Adrian Vermeule, Our Schmittian Administrative Law. In: Harvard Law Review, Nr. 122/4, Februar 2009 (harvardlawreview.org/print/vol-122/our-schmittian-administrative-law/).
Adrian Vermeule, Optimal Abuse of Power. In: Northwestern University Law Review, Nr. 109/3, 2015 (scholarlycommons.law.northwestern.edu/nulr/vol109/iss3/4/)
Vgl. Federalist-Artikel Nr. 70.
Eric A. Posner /Adrian Vermeule, The Executive Unbound: After the Madisonian Republic. Oxford University Press 2010.
Vgl. zum Beispiel Yochai Benkler /Robert Faris /Hal Roberts, Network Propaganda. Manipulation, Disinformation, and Radicalization in American Politics. Oxford University Press 2018.
Trump deklarierte in den ersten sieben Monaten seiner zweiten Amtszeit neun »national emergencies« sowie eine »crime emergency« in Washington, DC.
Vgl. die Kritik bei David Dyzenhaus, Schmitten in the USA. In: Verfassungsblog vom 4. April 2020 (verfassungsblog.de/schmitten-in-the-usa/).
Jannis Lennartz, An American in the Antique Store. Adrian Vermeule in Berlin. In: Verfassungsblog vom 6. Juni 2023 (verfassungsblog.de/an-american-in-the-antique-store/).
Ricardo Calleja, Imperare Aude! In: Ius et iustitium vom 20. Oktober 2020 (iusetiustitium.com/imperare-aude-dare-to-command/).
»Wohlstand« ist meine Übersetzung von »abundance«.
Adrian Vermeule, The Constitution of Hierarchy. In: Fudan Journal of the Humanities and Social Sciences, Nr. 17, 2024.
Die landläufige Erwartung ist, dass infolge der Entscheidung über den Fall Loper Bright vor allem Umweltschutzmaßnahmen reihenweise von Gerichten gekippt werden könnten. Allerdings hat die Trump-Regierung auf eigene Faust derartige Maßnahmen bereits drastisch zurückgefahren.
Gustav Radbruch, Parteienstaat und Volksgemeinschaft. In: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe. Bd. 12: Politische Schriften aus der Weimarer Zeit. Heidelberg: C. F. Müller 1993.