Heft 912, Mai 2025

Forschen in Gegenwart des Krieges

von Felix Ackermann

Die deutschen Universitäten waren im Februar 2022 auf die Folgen des von Putin mit der Vollinvasion ausgeweiteten Krieges in Europa so wenig vorbereitet wie der Staat, der sie finanziert. In der anfänglichen Phase eines chaotischen, aber umfassenden Aktivismus halfen sie Kolleginnen aus der Ukraine in den ersten Wochen nach ihrer Flucht. Es folgte eine kurze Phase der strukturellen Solidarität, in der deutsche Institutionen Mittel für ukrainische – in selteneren Fällen auch für russische und belarusische – Forscher zur Verfügung stellten. Die institutionelle Willenskraft reichte an einigen Standorten für sechs Monate, an anderen für zwölf. Dass aus der Ukraine geflüchtete Kolleginnen in der Bundesrepublik Bürgergeld beantragen können, senkte zudem den existenziellen Druck, weiterhin tätig zu bleiben. Nach wie vor gibt es immerhin das Philipp Schwartz-Programm der Alexander von Humboldt Stiftung, das wenige Stipendien an exzellente Kollegen aus der Ukraine vergibt, die nach zwei Jahren eine Chance auf eine Anstellung vor Ort haben.

Mit dem Auslaufen der meisten anderen Förderlinien begann ein Jahr nach dem Überfall eine dritte Phase, in der ein kleiner Teil der ukrainischen Wissenschaftlerinnen unter erschwerten Bedingungen Forschungsprojekte durchführt, deren Finanzierung sie in der Regel bereits von ihren neuen Institutionen aus beantragt haben. Im alltäglichen Mikromanagement der existenziellen Unsicherheit sind Ukrainerinnen wie alle anderen Wissenschaftler ganz der Härte (und Kälte) des deutschen Wissenschaftssystems ausgesetzt. Ukrainische Wissenschaftler, die bereits vor dem 24. Februar 2022 infolge des 2014 begonnenen Krieges und der mit ihm einhergehenden Wirtschaftskrise nach Deutschland gekommen sind, werden strukturell benachteiligt, weil sie nicht den Schutzstatus der Europäischen Union erhalten und nach Auslaufen eines Arbeitsvertrags ihre Aufenthaltsgenehmigung automatisch ausläuft.

Je länger Russlands Krieg anhält, desto umfassender entwickelt sich die Krise der ukrainischen Hochschullandschaft. Hunderte Einrichtungen mussten seit 2014 evakuiert werden. Nach 2022 sind die meisten Universitäten nicht wieder zum Präsenzunterricht zurückgekehrt. Angesichts von mehr als sechs Millionen Staatsbürgern, die außerhalb der Ukraine Zuflucht gefunden haben, und einer steigenden Zahl zum Einsatz an der Front mobilisierter junger Männer sind die Studierendenzahlen im Land dramatisch gesunken. Viele geflüchtete Wissenschaftler, die anfänglich noch über digitale Plattformen an ihrer Heimatuniversität gelehrt hatten, haben inzwischen ihre formelle Anbindung verloren, weil es dort nicht genügend Studierende gibt und der ukrainische Staat nicht in der Lage ist, die Wissensinfrastruktur aus der Zeit vor 2022 aufrechtzuerhalten.

In den Blick nehmen sollte man allerdings die zahlreichen NGOs, die im Angesicht des Krieges die Kraft und den Mut gefunden haben, neue Wege bei der Wissensproduktion zu beschreiten. Durch den Fokus auf russische Kriegsverbrechen, zerstörte Kulturgüter oder die Lebenswege Geflüchteter nehmen die Aktivisten Tiefenbohrungen vor, die schon jetzt die empirische Grundlage einer zukünftigen Geschichte des Krieges bilden.

Das in der westukrainischen Stadt Lwiw alias Lemberg tätige Center for Urban History gehört zu den Knotenpunkten, an denen bereits im März 2022 wissenschaftliche Theorie und aktivistische Praxis in einer Weise zusammenfanden, die das konsequente Bearbeiten einer Geschichte der Gegenwart nicht als Bedrohung der Zeitgeschichte versteht. Das zunehmend beschleunigte Heranrücken von Historisierungspraktiken an zentrale Ereignisse der Gegenwart führt in der Arbeit des Zentrums nicht zur Auflösung von Historizität oder Wissenschaftlichkeit, sondern zu einem höheren Grad der Reflexion über die grundlegende Veränderung von Zeitlichkeit in der digitalisierten sozialen Kommunikation.

Urlaub in Lwiw

Im Sommer 2024 organisiert das Zentrum an der Ukrainischen Katholischen Universität ein Symposium, um unter dem Titel »The Most Documented War« Aktivisten, Archivare, Wissenschaftlerinnen, Journalisten und Juristinnen zusammenzubringen. Die Direktorin Sofia Dyak betont zum Auftakt die besondere Bedeutung des Veranstaltungsorts Lwiw. Die Partner und Kollegen aus dem Westen mussten sich dafür auf dieselbe Tagesreise mit Bus und Bahn begeben, die Ukrainerinnen für Forschungskooperationen in die Gegenrichtung zurücklegen. Sie reisen dabei entweder privat oder illegal, weil sie keine Dienstreisegenehmigungen von ihren Arbeitgebern erhalten. Niemand will in Deutschland die Verantwortung für Versicherungen etc. übernehmen, weil es eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts gibt. Während die Aktivisten in der Ukraine um die Existenz ihres Staates ringen, fahren ihre engsten Kollegen offiziell in den Urlaub, um vor Ort dringende Fragen der Zusammenarbeit zu diskutieren.

Sie tagen gemeinsam zwei Tage lang in einem Konferenzraum, der zugleich ein öffentlicher Luftschutzkeller ist. Zu Beginn erheben sich alle für eine Schweigeminute. Im Foyer leuchten die Porträts der bis dahin sechzehn an der Front gefallenen Absolventen und Mitarbeiter der Universität auf einem großen LED-Bildschirm. Immer wieder bricht das Stromnetz zusammen. Es dauert dann einige Minuten, bis die Generatoren wieder genügend Strom produzieren.

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