Heft 852, Mai 2020

Homestorys (II): Living

von Christian Demand

»Unser living-room, – Wohnzimmer kann man

solche Räume ja nun wirklich nicht mehr nennen…«

Alfred Andersch, Opferung eines Widders (1963)

Anfang März 2015 empfingen der griechische Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varoufakis und seine Frau Danae Stratou ein Reporter- und Fotografenteam der Illustrierten Paris Match in ihrem Penthouse in der Altstadt von Athen. Varoufakis war zu diesem Zeitpunkt seit etwas mehr als einem Monat Finanzminister des Kabinetts von Alexis Tsipras. Als erste wichtige Amtshandlung, nur drei Tage nach seiner Vereidigung, hatte er die Zusammenarbeit Griechenlands mit der Troika, dem von der Euro-Gruppe eingesetzten haushaltspolitischen Kontrollgremium, einseitig für beendet erklärt. Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt des ansonsten wohlkalkulierten Eklats war der unmittelbar darauf einsetzende Medien-Hype um den »Euro-Schreck« (Bild) Varoufakis, der vor allem deshalb solche Fahrt aufnahm, weil der politische Seiteneinsteiger mit seinem unkonventionellen Auftreten wie der direkte Gegenentwurf zu den geriebenen Berufspolitikern wirkte, die bis zu diesem Zeitpunkt das uniforme Gesicht der Krise gewesen waren. Von nun an überschwemmten Aufnahmen des Ministers in Jeans und enger Lederjacke, wie er mit einem schweren Motorrad an seinem Amtssitz vorfährt, um unerschrocken dem Spardiktat aus Brüssel entgegenzutreten, alle medialen Kanäle. Sein schwarzer Integralhelm ließ an das Outfit militanter linksradikaler Demonstranten bei Weltwirtschaftsgipfeln denken. Dass der Mann sich selbst als »radical social theorist« bezeichnete und kurz nach seinem Amtsantritt im Guardian in geschliffenem Englisch eine Eloge auf Karl Marx publizierte,2 rundete das Bild ab.

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