Homestorys (IV): Behaglichkeit
von Christian Demand»In der Praxis werden Bücher meist entlang einer Maueroder einer Wand aufgestellt, eines neben dem anderen,auf rechteckigen, parallel zueinander verlaufenden Gestellen,die weder allzu tief sind noch allzu weit auseinander stehen.«
Georges Perec (1978)
Noch bis vor kurzem galt das Thema Wohnen als intellektuell eher randständig. Mittlerweile hat der Wind sich gedreht. Nach über zwei Jahren kollektiv aufgezwungener Auseinandersetzung mit Homeschooling, Homeoffice, fluiden Quarantäneregelungen und Lockdown-Logistik werden Heim und Haus nun auf einmal als ungeheuer spannende und reflexionsbedürftige Erfahrungsräume ausgerufen. »Die Pandemie hat unser aller Beziehung zu unserem Zuhause tiefgreifend verändert«, heißt es in einer der zahllosen öffentlichen Wortmeldungen, die die Brisanz dieses Bedeutungswandels beschwören, »schließlich hat sie in unseren eigenen vier Wänden nicht weniger Chaos angerichtet als in unserer Psyche und unserem Immunsystem. Wir waren dankbar für den Zufluchtsort, den unsere Wohnungen uns boten, und zugleich verärgert darüber, dort eingesperrt zu sein; während der Lockdown-Phasen war hier der Hort des einfachen Lebens, in dem man Zeit mit der Familie verbringen konnte, aber eben auch ein Schauplatz des Leidens und der Auseinandersetzungen. Wohl nie zuvor haben wir unser Heim so sehr als einen Ort erfahren, an dem man den Wetterkapriolen des Lebens unmittelbar ausgesetzt ist.«
Die Überlappung des Glücks mit der Welt
Sieht man einmal über die bemerkenswerte Selbstverständlichkeit hinweg, mit der hier im Namen eines familialen »Wir« Klage geführt wird, für das solch ambivalente Erfahrungen offenbar etwas gänzlich Ungewohntes darstellen, ist gegen die Beschreibung als solche ebenso wenig einzuwenden wie gegen die darin eingewobene Arbeitshypothese: Es spricht ja zunächst in der Tat einiges dafür, dass derart gravierende Einschränkungen der persönlichen Mobilität auch gravierende Folgen für das Verhältnis der Menschen zu ihrem privaten Lebensraum haben könnten, zumal dann, wenn sie so viele gleichzeitig treffen. Tatsache ist allerdings auch, dass bis heute niemand substantielle Beobachtungen oder Einsichten vorgelegt hat, die auch nur ansatzweise auf einen sich anbahnenden allgemeinen wohnkulturellen Perspektiven- oder gar Paradigmenwechsel hindeuten würden.
Auch ein Blick in die zahllosen Wohn- und Interieurzeitschriften, von denen man annehmen darf, dass sie auf alle Anzeichen für entsprechende seismische Erschütterungen in den gigantischen digitalen Bilduniversen, in die sie mittlerweile eingebunden sind, umgehend reagiert hätten, spricht im Moment eindeutig für Kontinuität. Obwohl die Branche seit März 2020 praktisch unentwegt mit der Pandemieproblematik konfrontiert war, sahen und sehen die Hefte letztlich genauso aus wie in den Jahren zuvor. Abgesehen davon, dass die altbekannten Makeover-Tipps zur Steigerung der heimischen Wohlfühlatmosphäre neuerdings gern als spezifische Coronablues-Therapie ausgeflaggt werden, unterscheidet sich eine Ausgabe von 2016 oder 2019 weder hinsichtlich der Bildmotive noch in der Themenwahl substantiell von einer aus dem Jahr 2022.
Das gilt unabhängig davon, auf welchem Anspruchsniveau die Zeitschriften jeweils operieren und welche Zielgruppe sie anpeilen; es gilt für den redaktionellen Teil ebenso wie für die Werbestrecken (wobei verlässliche Grenzen sich hier ohnehin nicht mehr ziehen lassen, seit die Verlage Marketingkooperationen pflegen, Reklame als »Advertorial« verkleiden und sogar eigene Produktlinien vertreiben). Und denkt man einmal genauer darüber nach, ist nicht einzusehen, weshalb sich überhaupt etwas hätte ändern sollen, geschweige denn was. Schließlich leben Wohnzeitschriften, ebenso wie die Unternehmen, die dort ihre Inserate schalten, im Wesentlichen davon, Wunschbilder eines idealen Zuhauses zu imaginieren. Welche Möbel, Küchengeräte, Anstriche, Textilien, dekorativen Arrangements etc. dabei in welcher Preiskategorie und Styling-Variante jeweils zum Einsatz kommen, macht nur vordergründig einen Unterschied. Ob ein Ort als Zuhause funktioniert, hat, wie Emanuele Coccia vor kurzem völlig zu Recht festgestellt hat, letztlich eben doch nur am Rande mit Architektur oder Design zu tun. Das Zuhause »stellt vielmehr eine moralische Realität schlechthin dar, ein psychisches und materielles Artefakt, das es uns ermöglicht, besser in der Welt zurechtzukommen, als unsere Natur es uns eigentlich erlaubt […] Genau das ist ein Zuhause: der erste und niemals fertige Entwurf einer Überlappung unseres Glücks mit der Welt.«
Die Konturen dessen, was in diesem Zusammenhang üblicherweise als Glück verstanden wird, erweisen sich seit Generationen als erstaunlich konstant. Sie markieren die private Innenwelt des Zuhauses schichtenübergreifend »zuallererst als Ort der Regeneration, des Rückzugs aus der Öffentlichkeit, der sozialen Zusammengehörigkeit zur Intimgruppe des Haushalts und als Freizeitort«, sprich: als Inbegriff von Ungezwungenheit und Geborgenheit – was durchaus nicht nur biedere, sondern auch gestalterisch abgeklärte und mondäne Interpretationen zulässt –, und zwar im Kontrast zu den Zumutungen einer Außenwelt, die diese Qualitäten im Regelfall gerade nicht oder doch nur unzureichend gewährleistet und die in Wohnzeitschriften deshalb konsequenterweise weitestgehend ausgeblendet wird. (Die englische Genre-Bezeichnung »shelter magazines« bringt dieses Blickverengungsprinzip anschaulich auf den Begriff.)
Die Pandemie ändert daran zunächst einmal wenig. Dass sie die Durchlässigkeit der vermeintlich schützenden Membran zwischen Innen und Außen auf besonders perfide Weise schmerzlich fühlbar macht, fügt den Zumutungen lediglich eine weitere hinzu. Die Anziehungskraft des wohnkulturellen Paradigmas von den eigenen vier Wänden als Wohlfühl- und Zufluchtsort dürfte sich durch die Steigerung des psychischen und energetischen Abriebs eher noch verstärken. Es sollte deshalb nicht verwundern, wenn sich der Umstand, dass viele Menschen ihr reales Zuhause während der Lockdown-Phasen öfter als zuvor als »Schauplatz des Leidens und der Auseinandersetzungen« erlebt haben dürften, in den Industrien, die davon leben, Wohnräume als Sehnsuchtsorte zu inszenieren, bislang nur marginal niedergeschlagen hat. Und das umso weniger, als diese ja seit jeher nicht etwa der empirischen Prosa des Wohnens nachforschen, als vielmehr die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit bewirtschaften, indem sie ihr Publikum in der Zuversicht bestärken, dass die affektive, organisatorische und materielle Hingabe, derer es bedürfte, sie zu verringern, durch ein signifikantes Mehr an Glück belohnt werden würde.
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