Homestorys (V): Never too small?
von Christian DemandIm September 1928 wurde in Berlin ein großer städtebaulicher Wettbewerb ausgelobt. Initiator war die Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen e. V., ein Gremium renommierter Experten, das erst kurz zuvor eingerichtet worden war, um mit staatlichen Fördergeldern den Bau von besonders rationell erstellten Wohngebäuden zu initiieren und wissenschaftlich zu begleiten. Der Wettbewerb war der Startschuss für sein erstes eigenständiges Projekt, eine öffentlich finanzierte, gemeinwirtschaftliche Großsiedlung in Zeilenbauweise, auf einem weitläufigen unbebauten Gelände in Spandau-Haselhorst in unmittelbarer Nähe zu mehreren großen Industriebetrieben gelegen. Sie war ausdrücklich für einkommensschwache Mieter gedacht, sollte deshalb fast zwei Drittel Klein- und Kleinstwohnungen umfassen und unter Verwendung typisierter Grundrisse, genormter Bauteile und moderner Fertigungsweisen so preisgünstig und zugleich so schnell wie möglich errichtet werden.
Das Programm erfüllte in allen wesentlichen Punkten die siedlungspolitischen Zielsetzungen, die die chronisch klamme Berliner Stadtregierung kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs angesichts massiver Wohnungsnot, hoher Arbeitslosigkeit und anhaltenden Baustoffmangels festgeschrieben und ab 1924, nach dem Ende der Hyperinflation und der Einführung der Hauszinssteuer, in beeindruckendem Tempo zu realisieren begonnen hatte. Zum Zeitpunkt der Ausschreibung waren in anderen Bezirken bereits zahlreiche ähnliche Projekte auf den Weg gebracht, manche davon sogar (zumindest teilweise) fertiggestellt worden. So befand sich etwa die Großsiedlung Siemensstadt mit knapp 1400 Wohnungen in der letzten Planungsphase. Bereits seit 1925 wurde an Bruno Tauts Hufeisensiedlung im Stadtteil Britz gearbeitet, wo in mehreren Bauabschnitten bis 1933 insgesamt 2000 Wohnungen entstehen sollten. Für Haselhorst waren sage und schreibe 4000 angepeilt. Auch wenn es schließlich nur um die 3500 wurden, war die Siedlung mit 12 000 Bewohnern doch die größte, die in Berlin in der Zeit der Weimarer Republik gebaut werden konnte.
Die schiere Menge an Wohneinheiten war aber auch schon alles, was die von ihren Initiatoren mit blechernem Pionierpathos und reichlich wissenschaftlichem Tamtam offiziös als »Reichsforschungssiedlung« verkaufte Unternehmung den anderen Berliner Großsiedlungen der zwanziger Jahre voraus hatte. In Fachkreisen meldeten sich schon bald die ersten Stimmen, die von den vielen Effizienz- und Innovationsversprechen keines wirklich eingelöst sahen, sei es nun bautechnisch, logistisch oder auch ökonomisch. Unumstritten war nicht einmal, ob die RFG überhaupt ernstzunehmende systematische Bauforschung betrieb. Dass Haselhorst baukünstlerisch ziemlich anspruchslos ausfiel, und das, obwohl namhafte Architekten, darunter auch Walter Gropius, der Direktor des Dessauer Bauhauses, an allen Planungsschritten beteiligt gewesen waren, wurde von den Zeitgenossen weniger kritisch kommentiert. Angesichts der akuten Notlage, die ästhetische Fragen solchen der wirtschaftlichen Umsetzbarkeit gegenüber als nachrangig erscheinen ließ, ist das verständlich. Es trug aber dazu bei, dass die Siedlung schon in den Architekturdebatten ihrer Zeit keine Rolle spielte, die ihrer Größe auch nur annähernd gerecht geworden wäre. Abseits architekturhistorischer Nischenforschung interessiert sich deshalb schon lange kaum mehr jemand ernsthaft für das Projekt, während die gestalterisch ambitionierteren – und zugleich auch deutlich fotogeneren – Wohnanlagen des Neuen Bauens in Britz oder Siemensstadt zum Inbegriff der Berliner Siedlungsbaukultur der 1920er Jahre geworden sind und als Teil des UNESCO-Weltkulturerbes noch heute auf breite wissenschaftliche wie auf allgemeine öffentliche Aufmerksamkeit stoßen.
Dabei ist Haselhorst als Baudenkmal allein schon deshalb interessant, weil der Blick darauf, anders als bei den als Ikonen der Moderne gefeierten Siedlungen, nicht schon von vornherein auf die ehrfurchtsvolle Bewunderung baukünstlerischer Meisterschaft ausgerichtet ist. So sticht viel stärker ins Auge, mit welch eherner Konsequenz der soziale Wohnungsbau in der Weimarer Republik dem Diktat von Wirtschaftlichkeit und Effizienz verpflichtet war. Einen anschaulichen Eindruck von den architektonischen Gegebenheiten in Haselhorst kann man sich noch heute im größten und ältesten Gebäude der Anlage verschaffen, einem vierstöckigen, zentral gelegenen, schier endlos langen, monotonen Zeilenbau. Nach der letzten Komplettsanierung der Siedlung wurde dort 2014 eine der Kleinwohnungen weitgehend in den Ursprungszustand versetzt und kann seither einmal im Monat besichtigt werden. Für diesen nahezu quadratisch geschnittenen Wohnungstyp ohne Balkon mit drei Zimmern auf 45 Quadratmetern Grundfläche und etwas mehr als zwei Metern Deckenhöhe kamen ehedem nur Ehepaare mit Kindern als Mieter infrage (für Alleinstehende und kinderlose Paare waren Kleinstwohnungen mit 36 Quadratmetern vorgesehen). Um dem beschränkten Raum möglichst geräumige Zimmer abzutrotzen – der Zuschnitt des Schlafzimmers orientierte sich mit 11,15 Quadratmetern am Platzbedarf eines Ehebetts und eines Kleiderschranks –, wurden der billigst ausgestattete Sanitär- und Kochbereich sowie der Flur aberwitzig klein gehalten.
Damit in dem gangartig schmalen, langgestreckten Badezimmer gleich rechts hinter dem Eingang, das nur drei Quadratmeter Fläche beanspruchte, die winzige, wie ein zu groß geratener Keramik-Putzeimer wirkende Wanne an der hinteren Schmalseite überhaupt erreichbar war, musste das davor gelegene Stand-WC im 45-Grad-Winkel schräg zur Seitenwand eingebaut werden. Im wenig mehr als zwei Quadratmeter großen Flur auch nur eine kleine Garderobe unterzubringen, war bei vier Türen, die dort aufeinandertrafen, mangels verbleibender Wandfläche praktisch unmöglich. Aus Kostengründen war auf eine separate Küche mit Einbaumöbeln und damit auf die von vielen Protagonisten des Neuen Bauens propagierte strenge Funktionstrennung von Koch- und Wohnbereich verzichtet worden. Herd und Spülstein waren im dritten Wohnraum in einer engen, seitlichen Nische untergebracht, in der nicht mehr als eine Person stehend Platz fand. Als Arbeitsfläche diente eine unter dem Esstisch montierte, ausziehbare Platte, in die zwei herausnehmbare Emaille-Wannen eingelassen waren. Zusammen mit den Stühlen und dem Büffet an der Rückwand war dann auch dieses Zimmer bereits weitgehend vollgestellt. Angesichts des begrenzten Stauraums hatte die RFG vorsorglich ein Infoblatt mit Abbildungen mustergültig platzsparender Küchengerätschaften drucken lassen.
The Ship Beautiful
Natürlich waren derart rigide Raumsparkonzepte – und Haselhorst ist nur ein Beispiel von vielen – durch die staatlichen Förderrichtlinien im sozialen Wohnungsbau erzwungen wie diese ihrerseits durch die prekären ökonomischen Verhältnisse. Architekten, die realistische Chancen auf eine Beschäftigung haben wollten, hatten sich mit diesen Rahmenbedingungen nolens volens zu arrangieren. Tatsache ist allerdings auch, dass sich die Maxime vom Segen der Schlichtheit, des Weglassens und Verwesentlichens in den öffentlichen wie auch in den Fachdebatten über die Frage nach der Zukunft des Bauens und Wohnens schon lange vor dem Ersten Weltkrieg auf breiter Front durchgesetzt hatte. Tatsächlich war sie im deutschen Sprachraum eine der wenigen allgemeinen Leitvorstellungen, die während der 1920er Jahre über nahezu alle ästhetischen und weltanschaulichen Differenzen hinweg grundsätzlich Zustimmung fanden.
Die besondere, mitunter fast schon manisch wirkende Konzentration des Berufsstands auf die Optimierung von Klein- und Kleinstwohnungen – schon die Zahl der zwischen 1923 und 1933 in Buchform oder auch in den einschlägigen Fachforen veröffentlichten Muster-Grundrisse ist kaum zu überblicken – war somit keineswegs allein aus der Not geboren. Sie lässt sich auch als Ausdruck der Überzeugung verstehen, dass die veränderten Lebensverhältnisse in der modernen, von Wissenschaft, Technik, Industrie und Verwaltung modellierten Gesellschaft, die schließlich jedermann auf allen Ebenen Tempo, Flexibilität und Effizienz abverlangten, eine daran angepasste Architektur erforderten. In dem Maße, in dem es gelang, die Beschränkung der Wohnfläche als sinnvollen Schritt in diese Richtung zu interpretieren, etwa indem man sie, wie im Fall von Haselhorst, als Maßnahme zur Steigerung der Effizienz der Haushaltsführung pries, erschien sie nicht länger nur als aufgezwungener Verzicht. Sie konnte vielmehr als konstruktiver Beitrag der Architektur gedeutet werden, das reibungslose Funktionieren des modernen Alltagslebens speziell in der Großstadt sicherzustellen. Wenig überraschend, dass insbesondere diejenigen Architekten und Stadtplaner, die sich im emphatischen Sinne als modern verstanden, sich durch ihre nach eigenem Dafürhalten auf allen Ebenen konsequenter Rationalität verpflichtete Planungsexpertise für diese Aufgabe besonders gut gerüstet fühlten. Auf den beiden internationalen CIAM-Kongressen in Frankfurt 1929 und Brüssel 1930, bei denen unter anderem Gropius und Le Corbusier ihre Ideen zum Bauen und Wohnen auf kleiner Fläche vorstellten, wurde der konsequente Einsatz funktional optimierter architektonischer Minimallösungen als Generator für einen radikalen Wandel der Lebensführung gepriesen, der sich nicht nur für die einzelnen Bewohner, sondern für die Gesellschaft als Ganze als segensreich erweisen werde.
Man müsse »ankämpfen gegen das Haus von früher mit seiner Raumverschwendung«, hatte Le Corbusier diese Auffassung bereits 1923 in einer berühmten Passage seiner wenige Jahre später auch in Deutschland breit rezipierten Programmschrift Vers une Architecture auf den Punkt gebracht. Wer als Architekt auf der Höhe der Zeit schaffen wolle, habe deshalb wie ein Ingenieur zu denken. »Man muss das Haus als eine Wohn-Maschine oder als ein Werkzeug betrachten.« Das bezog sich keineswegs allein auf die Unterbringung der einkommensschwachen Schichten. Es handelte sich vielmehr um eine planerische Generalmaxime. Reduziert auf das funktionale Minimum, wie ein Eisenbahnwaggon oder die Schiffskabine eines Ozeandampfers sollte das Innere eines jeden modernen Wohngebäudes künftig »entworfen und durchgebildet« sein. Sprich: kompakte Schnitte, kurze Wege, klare Zonierungen, minimale, aber dafür zweckmäßige Ausstattung und damit »Ersparnis an Bewegungen, an Anordnungen und Gedanken«. Von diesem optimiert gegliederten Inneren ausgehend, gelte es anschließend, das Äußere zu gestalten, denn: »Aus dem Grundriss entsteht alles.«
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