Heft 866, Juli 2021

Homestorys (III): Zeige mir, wie du wohnst

von Christian Demand

In der monatlichen Magazinbeilage der Neuen Zürcher Zeitung erscheint unter dem Titel Wer wohnt da? seit 2005 eine außergewöhnlich langlebige Kolumne. Welchen Stellenwert Redaktion und Verlag ihr beimessen, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass sie alle konzeptionellen und formalen Umgestaltungen, mit denen die NZZ auf die im Lauf der vergangenen gut anderthalb Jahrzehnte auch in der Schweiz chronisch gewordene Krise der Printmedien reagierte, fast unverändert überstanden hat. Wer wohnt da? ist eine unterhaltsam verkomplizierte Homestory, eine Mischung aus Wohlfühlreportage, alltagshermeneutischem Detektivspiel und spätmodernem Wohnknigge. Den Ausgangspunkt jeder Folge bilden drei professionell gefertigte Farbfotos, wie man sie auch in einem Wohnmagazin finden könnte. Jedes davon gibt großzügig Einblick in unterschiedliche Räume – meist Wohnzimmer und /oder Küche, häufig aber auch Schlaf- und /oder Badezimmer – einer Privatwohnung, über die darüber hinaus nichts bekannt ist und deren Nutzer nicht nur unsichtbar, sondern auch ungenannt bleiben.

Die Bilder werden einer Psychologin sowie einem Innenarchitekten »kommentarlos« vorgelegt. Aufgabe der beiden ist es, ausschließlich auf dieser Grundlage möglichst weitreichende Hypothesen in Bezug auf die mutmaßlichen Bewohner, deren Lebensumstände, Charaktereigenschaften, Interessen, Prioritäten, Geschmackspräferenzen aufzustellen sowie zu kommentieren, was ihnen am jeweiligen Interieur außerdem noch bemerkenswert erscheint. Inwieweit sie mit ihren, nach gut helvetischer Tradition meist eher wohlmeinend (mitunter aber durchaus auch versteckt maliziös) formulierten Hypothesen richtig oder falsch lagen, wird auf der folgenden Seite aufgelöst. Dort findet sich ein Porträtfoto der tatsächlichen Bewohner, ergänzt durch einen längeren Text auf Basis der Informationen, die dieser /diese nach der Lektüre der beiden Spontangutachten über sich, die Beziehung zu ihrer Wohnung und ihr Verhältnis zu den sie umgebenden Dingen öffentlich preiszugeben bereit war /waren.

Diese Spielanordnung bringt zunächst einmal eine Selbstverständlichkeit zu Bewusstsein: Die private Wohnung ist ein Ort besonderer Diskretion. Das dürfte für die meisten Gesellschaften der Welt gelten. Seit wann das so ist, lässt sich nicht verlässlich ermitteln. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, das feste Behausungen erfüllen, ist aber derart basal, dass es wohl bis in die frühesten Zeiten menschlicher Siedlungstätigkeit zurückreicht.1 Ein allgemeines Gebot, das Innere jeder Wohnstätte als den Augen und Ohren aller außerhalb des engsten Familienkreises ausdrücklich entzogene beziehungsweise zu entziehende Arkansphäre zu behandeln, scheint sich zivilisationsgeschichtlich allerdings eher spät ergeben zu haben. In Europa begegnet man ersten Vorboten einer solchen Entwicklung während des 17. Jahrhunderts in einigen wenigen, wirtschaftlich begünstigten Städten. Wirklich durchsetzen konnte sie sich jedoch erst im Zuge der Konsolidierung der bürgerlich-industriellen Gesellschaft, also im Lauf des 19. Jahrhunderts. Das damals entstandene breite gesellschaftliche Einvernehmen darüber, dass die private Wohnstätte als Enklave persönlicher Intimität und familiärer Vertraulichkeit unbedingten Schutz verdiene, hat im Wesentlichen bis in die Gegenwart Bestand.

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