Homestorys (III): Zeige mir, wie du wohnst
von Christian DemandIn der monatlichen Magazinbeilage der Neuen Zürcher Zeitung erscheint unter dem Titel Wer wohnt da? seit 2005 eine außergewöhnlich langlebige Kolumne. Welchen Stellenwert Redaktion und Verlag ihr beimessen, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass sie alle konzeptionellen und formalen Umgestaltungen, mit denen die NZZ auf die im Lauf der vergangenen gut anderthalb Jahrzehnte auch in der Schweiz chronisch gewordene Krise der Printmedien reagierte, fast unverändert überstanden hat. Wer wohnt da? ist eine unterhaltsam verkomplizierte Homestory, eine Mischung aus Wohlfühlreportage, alltagshermeneutischem Detektivspiel und spätmodernem Wohnknigge. Den Ausgangspunkt jeder Folge bilden drei professionell gefertigte Farbfotos, wie man sie auch in einem Wohnmagazin finden könnte. Jedes davon gibt großzügig Einblick in unterschiedliche Räume – meist Wohnzimmer und /oder Küche, häufig aber auch Schlaf- und /oder Badezimmer – einer Privatwohnung, über die darüber hinaus nichts bekannt ist und deren Nutzer nicht nur unsichtbar, sondern auch ungenannt bleiben.
Die Bilder werden einer Psychologin sowie einem Innenarchitekten »kommentarlos« vorgelegt. Aufgabe der beiden ist es, ausschließlich auf dieser Grundlage möglichst weitreichende Hypothesen in Bezug auf die mutmaßlichen Bewohner, deren Lebensumstände, Charaktereigenschaften, Interessen, Prioritäten, Geschmackspräferenzen aufzustellen sowie zu kommentieren, was ihnen am jeweiligen Interieur außerdem noch bemerkenswert erscheint. Inwieweit sie mit ihren, nach gut helvetischer Tradition meist eher wohlmeinend (mitunter aber durchaus auch versteckt maliziös) formulierten Hypothesen richtig oder falsch lagen, wird auf der folgenden Seite aufgelöst. Dort findet sich ein Porträtfoto der tatsächlichen Bewohner, ergänzt durch einen längeren Text auf Basis der Informationen, die dieser /diese nach der Lektüre der beiden Spontangutachten über sich, die Beziehung zu ihrer Wohnung und ihr Verhältnis zu den sie umgebenden Dingen öffentlich preiszugeben bereit war /waren.
Diese Spielanordnung bringt zunächst einmal eine Selbstverständlichkeit zu Bewusstsein: Die private Wohnung ist ein Ort besonderer Diskretion. Das dürfte für die meisten Gesellschaften der Welt gelten. Seit wann das so ist, lässt sich nicht verlässlich ermitteln. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, das feste Behausungen erfüllen, ist aber derart basal, dass es wohl bis in die frühesten Zeiten menschlicher Siedlungstätigkeit zurückreicht.1 Ein allgemeines Gebot, das Innere jeder Wohnstätte als den Augen und Ohren aller außerhalb des engsten Familienkreises ausdrücklich entzogene beziehungsweise zu entziehende Arkansphäre zu behandeln, scheint sich zivilisationsgeschichtlich allerdings eher spät ergeben zu haben. In Europa begegnet man ersten Vorboten einer solchen Entwicklung während des 17. Jahrhunderts in einigen wenigen, wirtschaftlich begünstigten Städten. Wirklich durchsetzen konnte sie sich jedoch erst im Zuge der Konsolidierung der bürgerlich-industriellen Gesellschaft, also im Lauf des 19. Jahrhunderts. Das damals entstandene breite gesellschaftliche Einvernehmen darüber, dass die private Wohnstätte als Enklave persönlicher Intimität und familiärer Vertraulichkeit unbedingten Schutz verdiene, hat im Wesentlichen bis in die Gegenwart Bestand.
Dementsprechend reibungslos funktionieren im Alltag die Distanzregeln und Schamreflexe, an denen sich – zumindest ab einem bestimmten Lebensalter – beim Besuch einer fremden Wohnung die wechselseitigen, an die Art des jeweiligen Anlasses und den Grad der gegenseitigen Vertrautheit angepassten Einlassrituale und Verhaltenserwartungen orientieren. »Man dringt nicht leichtfertig in fremde Häuser, erst recht nicht ins Innere fremder Wohnungen ein«, stellt Gert Selle fest, »der zufällige Einblick ist nicht frei von Peinlichkeit und gilt schon als unerlaubte, voyeurhafte Handlung […] Noch bei geöffneter Wohnungstür gibt es […] einen unsichtbaren Vorhang, die psychokulturell verinnerlichte Scheu vor ungehemmtem Eintreten und unvorsichtigem Einlaß.«2 In Wer wohnt da? wird dieses informelle Regelwerk subtil unterlaufen. Die Fotostrecken simulieren keine reguläre Besuchssituation. Der Aufenthalt in der Wohnung ist zwar angekündigt und findet mit ausdrücklicher Billigung der Bewohner statt, aber zugleich in deren Abwesenheit (wobei anzunehmen ist, dass sie beim Shooting gleichwohl zugegen waren).
Über die genauen Bedingungen und Umstände, unter denen die Aufnahmen gefertigt werden, erfährt man leider wenig. Kandidat kann nach Auskunft der verantwortlichen Redakteurin grundsätzlich jeder werden, der »eine gute Lebensgeschichte zu erzählen hat, dessen Leben in seinem Daheim abzulesen ist«.3 Im Großen und Ganzen sieht das Teilnehmerfeld so aus, wie sich eine wirtschaftsliberale, bürgerlich konservative Zeitung ihre potentielle Zielgruppe vorstellen dürfte. Die Porträtfotos zeigen überwiegend selbstbewusste Menschen von gepflegtem Äußeren jenseits der dreißig, die einem ebensogut auch in der regulären Abonnentenwerbung der NZZ begegnen könnten. Ein großer Teil der Porträtierten ist überdurchschnittlich hoch qualifiziert und gehört sozialen Milieus an, in denen der persönliche Autonomieanspruch, das Bedürfnis nach standesgemäßer Ausstattung und bewusster individueller Stilisierung der privaten Lebenswelt sowie die Vertrautheit mit unterschiedlichen wohnästhetischen Codes für gewöhnlich, zumindest über kurz oder lang, mit einem entsprechenden Wohlstandsniveau zusammenfinden. Dass sich in diese – nebenbei ethnisch bemerkenswert homogene – Phalanx aus Unternehmern, Juristen, Hochschuldozentinnen, Ärzten, Verlagsleiterinnen, Verwaltungskräften, HR-Managern, Architektinnen, Vermögensberatern, Psychologinnen, Honoratioren im Ruhestand, Künstlerinnen, Kulturschaffenden und Kreativen jeder nur denkbaren Sparte hin und wieder auch mal ein freischaffendes Tattoostecher-Paar, die Betreiberin eines Katzenhotels, ein sammelwütiger Alt-DJ, ein Fernfahrer oder eine kinderreiche, aus der Türkei zugewanderte Schuhmacherfamilie einreihen, kann über die grundsätzliche sozioökonomische wie auch soziokulturelle Unwucht der Kandidatenkür nicht hinwegtäuschen.
Sofern die Auswahlpolitik die Zusammensetzung der Leserschaft einigermaßen korrekt widerspiegelt, konfrontiert die Kolumne ihr Publikum also nicht etwa mit fremden Lebenswelten. In einer suggestiven Endlosschleife führt ihm Wer wohnt da? vielmehr verlässlich stets aufs Neue die eigene vor Augen, wenn auch, wie durch ein Kaleidoskop, in ständig wechselnden Gestalten. Wobei der Hang zur Selbstbezüglichkeit in der Logik des Spiels bereits angelegt ist. Eine Kolumne, die den Reiz am Dechiffrieren der Semiotik des Alltags auskostet, lebt nun einmal maßgeblich von der Originalität, Elaboriertheit, Reichhaltigkeit, der Varianz und Prägnanz derInterieurgestaltungen, mit denen sie sich auseinandersetzen kann. Für derartige gestalterische Zielsetzungen überhaupt ein besonderes Interesse zu entwickeln, muss man zuvor Gelegenheit gehabt haben; sie systematisch zu kultivieren, muss man sich darüber hinaus auch leisten können und wollen. Das grenzt das gesellschaftliche Spielfeld zwangsläufig erheblich ein, gerade wenn das Spiel dauerhaft am Laufen gehalten werden soll.
Seelenspiegel
Im Unterschied zu den Interieurfotografien in Einrichtungszeitschriften, Designmagazinen und Möbelkatalogen, die, auch wenn sie mittlerweile häufig ebenfalls mit dokumentarischem Anspruch auftreten, zwangsläufig stets unter Inszenierungsverdacht stehen, versprechen die Fotostrecken von Wer wohnt da? einen (weitgehend) ungeschönten Einblick in die private Lebenswelt realer Menschen. Die Erwartung, dass sich auf dieser Basis durch einfachen Sichtbefund (»kommentarlos«) Rückschlüsse nicht nur auf deren materielle Lebensumstände, sondern zugleich auch auf ihre Persönlichkeit ziehen lassen, setzt die stillschweigende Überzeugung voraus, dass Wohnungen für Charakterstudien außergewöhnlich ergiebige Orte darstellen; dass sie mehr, Intimeres und damit zugleich Verlässlicheres über die verraten, die darin leben, als andere Medien des symbolischen Selbstausdrucks, also etwa Kleidung, Schmuck oder Frisuren, die von vornherein absichtsvoll auf den Auftritt im öffentlichen Raum zugeschnitten und zugleich ephemerer Natur sind.
Dieses Credo, mit dem man in der vormodernen Ständegesellschaft zumindest bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein noch weithin verständnisloses Kopfschütteln hervorgerufen hätte, gehört zu den unhinterfragten Grundprämissen einer weitverbreiteten, praktisch nie öffentlich infrage gestellten wohnpsychologischen Alltagspraxis. Im Schrifttum zur Einrichtungs- und Wohnkultur begegnet man ihm auf Schritt und Tritt, ob es sich nun um konsumkritische und gestaltungsreformatorische Erziehungsliteratur handelt, um Wohnjournalartikel, um Ratgeberprosa oder um die Marketinglyrik der einschlägigen Ausstattungsindustrien. Wie jedes Credo wird auch dieses nur selten begründet, sondern meist einfach gesetzt. Seine Autorität beruht im Wesentlichen auf eingelebter Gewohnheit. Für deren Sachangemessenheit sollen in aller Regel bildhafte Vergleiche bürgen. Der Blick in die Wohnung ist demnach deshalb so aufschlussreich, weil deren Bewohner im Interieur »Spuren hinterlassen«;4 weil sie der sie umgebenden Dingwelt ihren »Stempel aufdrücken«; weil sie dem Interieur »ein Gesicht verleihen«, dessen Unverwechselbarkeit aus der Unverwechselbarkeit ihrer eigenen Persönlichkeit resultiert und deshalb zuverlässig über diese Auskunft gibt.5
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