Heft 874, März 2022

Ich habe fertig: Überlegungen zur »Ästhetik der Existenz«

von Christoph Paret

»Katharsis«, »Sublimation«, »Hypnotisierung durchs Spektakel« – erinnert sich eigentlich noch jemand daran, dass dem Ästhetischen einmal mit großer Selbstverständlichkeit eine Entlastungs- und Entspannungsfunktion zugesprochen wurde? Manche haben das als Passivität verdammt, andere als Kontemplation geschätzt. Vorbei. Wann hat es angefangen, dass man sich ästhetisch überhaupt nur anstrengen kann? Da gilt es, »ästhetische Erfahrungen« zu machen, da gibt es unzählige Kunstwerke, an denen man »partizipieren« oder durch die man »aktiviert« werden soll. Kunstaktivisten finden sich reihenweise, wo hätte man jemals einen Kunstpassivisten gesehen?

Selbst außerhalb des Kunstsystems entkommt man dem Ästhetischen nicht: Ob man will oder nicht, man sendet sozioökonomische »Distinktionssignale«, wird »ästhetisch sozialisiert«, konstruiert »performativ« seine Identität. »Doing gender«, »doing class«, »doing« dies und »doing« das. Wie es aussieht, gibt es keine Null-Ästhetik. Man kann also sehr wohl unästhetisch, aber leider nicht anästhetisch sein. Auch wer davon nichts wissen will, »pflegt« einen bestimmten »Lifestyle« und muss es sich gefallen lassen, auf seinen Geschmack oder auf seine Geschmacklosigkeiten hin beobachtet zu werden. Keine Ästhetik-Askese könnte hier ausscheren. Jedes minimalistische Sich-bedeckt-Halten bewiese nur erst recht die Gewandtheit des ästhetischen Players. Die entscheidenden ästhetischen Unterschiede sind nämlich die feinen, und die niederschwellige Ästhetisierung (Bauhaus!) erweist sich als ihre höchste Form.1

Bei alldem scheint es ausgeschlossen, die »ästhetische Arbeit« an sich könne jemals zu einem Abschluss gelangen. Damit wird dem Menschen jenes Verdikt verwehrt, welches sich zumindest der erste Schöpfer, lange Zeit das Urmodell des Künstlers, sehr wohl erlaubte: »Und Gott sah, dass es gut war.« Es ist, als stünden wir immer noch im Bann des Umstands, dass der Mensch die überhaupt einzige Schöpfung war, über die damals Derartiges nicht geäußert wurde, und als müsse die Arbeit an ihm deshalb ohne Ende weitergehen.

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