Versehentlich unsterblich
Nachleben im Anthropozän von Christoph ParetWe kehr for you.
Berliner Straßenreinigung
Im Anthropozän erfüllt sich aus Versehen der Wunsch des Kulturmenschen, eine bleibende Spur zu hinterlassen, ein Denkmal »dauerhafter als Erz«. Ironischerweise wird die Art und Weise, über den eigenen Tod hinauszuwirken, weniger in großen Werken bestehen, sondern in Zerstörungen, Emissionen oder Müll. Die menschlichen Hinterlassenschaften werden also letzten Endes kein Schwarzes Quadrat, keine Venus und keine Pyramide sein, sondern eine geologische Schicht aus Radionukliden, Flugasche, Mikroplastik und Kunstdünger. Diese aber fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Kultur- und Geisteswissenschaften. Für menschliche Erzeugnisse von derart langer Haltbarkeit ist die Geologie zuständig.1
Bei den geläufigen Debatten zum Anthropozän stehen meist die Gefahren für das Leben im Mittelpunkt. Und so redet man über schwindende Artenvielfahrt, ein drohendes sechstes Massenartensterben oder davon, dass menschengemachte Veränderungen am Erdsystem zur Auslöschung der Menschheit führen könnten. Weitaus seltener wird thematisiert, was es eigentlich heißt, dass wir »Effekte produzieren, deren Dauer die Lebensspanne, einschließlich der kollektiven oder mitunter gar der Menschheit selbst, weit übersteigt«.2 Wir werden uns, auf Millionen Jahre hin, verewigt haben. Und erstmals wissen wir auch, dass unsere Einschreibung in das »Archiv der Welt« keine aristokratische Angelegenheit ist, bei der einzelne große Namen überdauern, während dem großen Rest der Menschheit das Schicksal beschieden ist, in die Vergessenheit zu sinken. Die Effekte des Anthropozän sind anonymes Menschenwerk, ohne dass man in aufwändiger Weise für den »Tod des Autors« argumentieren müsste. Brechts »lesender Arbeiter« kann aufhören, seine Fragen zu stellen.
Angesichts der kümmerlichen Fragmente, die fortbestehen werden, mag es angebracht sein, die Beschäftigung mit dem Anthropozän selbst fragmentarischen Charakter annehmen zu lassen. Es macht jedenfalls einen Unterschied, ob man das Anthropozän unter dem Blickwinkel des Überlebens oder dem des Nachlebens betrachtet. Im ersten Fall erscheint es als Katastrophe, im zweiten als schlechter Witz.
Müll und Ewigkeit
Unsere Vorstellung von Kultur basierte einige tausend Jahre lang auf der stillschweigenden Prämisse der Vergänglichkeit des Mülls. Sokrates etwa mochte für das Gerechte, Schöne und Gute ewige Ideen ansetzen. Doch durfte man Entsprechendes auch für Haar, Kot oder Dreck annehmen? Mit dieser Frage brachte ihn Parmenides in die Bredouille.3 Wie auch immer Sokrates diese Frage beantwortete, er würde in Schwierigkeiten geraten. Wollte er den Abfällen eine unvergängliche Idee des Abfalls beigesellen, musste er sich die Frage gefallen lassen: Wie kann dasjenige, dessen einzige Bestimmung es ist, zu zerfallen, an einer Idee teilhaben, die als solche nicht zerfällt? Der umgekehrte Versuch wiederum, nämlich den Abfällen abzusprechen, an einer allgemeinen Idee des Abfalls zu partizipieren, hätte Sokrates gezwungen zuzugestehen, »daß diese Dinge wirklich auch das sind, was wir sehen«. Während alle sonstigen Objekte und Handlungen nur den schwachen Abglanz von Ideen bildeten, stünde der Abfall für sich selbst: Er allein wäre the real thing.
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