Heft 871, Dezember 2021

(K)eine Mondreise, oder: Astronoetik nach Kepler

von Bernhard Dotzler

Sperrig. Politisch. Magisch. Johannes Keplers TRAUM, || oder || Nachgelassenes Werk || über die Astronomie des Mondes (Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, Frankfurt am Main 1634) – diese frühe Science-Fiction einer Reise zum Mond als Verteidigung des seinerzeit umkämpften Kopernikanischen Weltbilds – kam nie auf irgendeine Bestenliste und ist nun doch, pünktlich zum 450. Geburtstag des Astronomen, neu aufgelegt worden. Und das zu Recht. Denn aktuell ist dieses merkwürdige Hybrid aus Erzählung und Traktat auf seine Weise auch.

Sperrig

Man findet nicht leicht hinein in Keplers Text. Ein Ich-Erzähler berichtet von seiner »Lektüre böhmischer Literatur«, darunter die »Geschichte der Heldin Libussa«, dieser »hochberühmten Zauberin« und Ahnherrin Prags, und wie er nach solcher Lektüre, nicht ohne zuvor noch »den Mond und die Sterne betrachtet« zu haben, »in tiefen Schlaf fiel«, nur um sich im Traum wieder »ein Buch durchlesen« zu sehen. Darin berichtet ein anderer Ich-Erzähler von seiner Kindheit auf Island (»Fiolx«), seinen Reisen und seinem Astronomie-Studium bei Tycho Brahe, der Rückkehr zu seiner Mutter Fiolxhilde, einer Kräuterhexe, und seiner Begegnung mit dem von ihr herbeigerufenen »Dämon aus Levania«, der dann als dritter Ich-Erzähler mit seiner Geschichte anhebt. Seine Heimat Levania ist dabei nichts anderes als der Mond: »Mond heißt auf Hebräisch ›Lebhana‹ oder ›Levania‹«, merkt Kepler an und ergänzt, er hätte die Heimat des Dämons »auch ›Selenitis‹« nennen können. Aber die hebräischen Wörter, dem Ohr fremder, empfehlen sich in den geheimen Künsten durch stärkeren mystischen Klang. Von den dortigen Naturgegebenheiten und Lebensbedingungen also erzählt nun dieser Dämon – bis plötzlich »ein Sturm mit prasselndem Regen« den ersten Ich-Erzähler aus dem Schlaf reißt.

Der Traum, oder: Mond-Astronomie, wie Beatrix Langner ihn poetisch schön umschreibt, ist ein »Zauberkasten, in dem sich unter jedem Deckel eine andere Welt verbirgt, ein Buch im Buch mit drei Erzählern, drei Schauplätzen und drei ineinandergeschachtelten Geschichten« – in dieser Verschachtelung vergleichbar mit Filmen wie Welt am Draht, der Matrix-Serie oder Inception. Dennoch wäre Keplers Erzählung damit zu vergleichen so falsch wie sie als frühe Raumfahrt-Erzählung zu bezeichnen. Wohl ist sie ein »Pionierwerk der Science-Fiction«, mit vorweggenommener Astronautik hat sie allerdings nicht viel zu tun.

Zwar werden auch »menschliche Reisende« erwähnt und der Umstand, dass der »Weg nach Levania« für sie »mit höchster Lebensgefahr verbunden« ist, indem sie »keinen geringeren Strapazen ausgesetzt« sind, als wenn sie »von Sprengpulver hochgeschossen« würden. Aber weder das erste noch das zweite Ich verlassen die Erde, sondern erfahren nur vom dritten, dem Dämon, wie sich die Welt da oben – und von da oben her betrachtet – ausnimmt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, die ersten space operas seien bereits Jahrhunderte vor Jules Verne und dann dem Kino geschrieben worden. Von einem Lukian von Samosata. Von einem Kepler. Einem Cyrano de Bergerac. Aber all diese älteren Beispiele haben mit einer space opera nicht mehr gemein als – nun ja, eben – die Oper, Il mondo della luna von Joseph Haydn zum Beispiel.

Statt in ein Weltraumabenteuer verstrickt Kepler in eine Gedankenreise. Diese umfasst in der vorliegenden (ersten vollständigen) Übersetzung die eigentliche Traumerzählung von zwanzig Seiten, geschrieben 1609, und weitere knapp einhundert Seiten Kommentar und Anhang, den Kepler von 1620 bis 1630 zusammentrug. Das steigert noch die Sperrigkeit. Zum einen verdichten die Anmerkungen das schon in der Erzählung angelegte Gespinst aus Allegorie (»Traum«) und Faktenvermittlung (»Mond-Astronomie«). So deutet die Erzählung beispielsweise nur an, dass auch die levanianischen Dämonen nicht beliebig zwischen Erde und Mond zu wandeln vermögen: »Der Weg von hier dorthin oder von dort hierher steht nur sehr selten offen.« Erst der Kommentar erklärt sich hierzu dann deutlicher: Es bedarf der Mond- und Sonnenfinsternisse. Wenn bei einer Mondfinsternis der Schattenkegel der Erde »den Mond berührt, dann dringen die Dämonen scharenweise auf den Mond ein, indem sie den Schattenkegel als Leiter benutzen. Umgekehrt: Wenn der Schattenkegel des Mondes bei der totalen Sonnfinsternis die Erde berührt, kehren die Dämonen über ihn zurück zur Erde.« Um aber die Scherzhaftigkeit eines solchen Einfalls zu markieren, sät derselbe Kommentar gerade diesbezüglich Zweifel: »Liegt hier eine physikalische Erkenntnis zugrunde, vermischt mit Scherz, warum die Sonnen- und Mondfinsternisse angeblich so viel Schaden anrichten?«

Zum anderen mag schon die Erzählung mit ihrem Blick vom Mond aus auf die Erde und in den Kosmos verblüffen. Doch erst in ihrer Kommentierung schlägt die ganze anspruchsvolle Gedankenakrobatik dieses Standortwechsels zu. »Levania scheint nämlich ihren Bewohnern genau so festzustehen und von den Gestirnen umkreist zu werden, wie uns die Erde«, formuliert die Erzählung eher lapidar das Kernargument, um das es dem Traum insgesamt geht. Umso deutlicher dann der Kommentar zu dieser Stelle: »Hier offenbart sich die Hypothese des ganzen ›Somniums‹, nämlich die Begründung für die Bewegung der Erde, oder eher die Widerlegung der Begründung gegen die Bewegung der Erde, die auf der Sinneswahrnehmung aufgebaut ist.«

Und weil es dergestalt um die damals noch so umstrittene »Astronomia Copernicana« zu tun ist, wartet der Kommentarteil des Buchs mit einer Anmerkung nach der anderen auf, welche die Umrechnung der Himmelserscheinungen von der Erde zu ihrer Beobachtung vom Mond aus vornehmen: »Der Sonne, die an sich völlig unbeweglich ist, schreiben die Erdbewohner ganz einfach die tägliche Bewegung der Erde auf der großen Umlaufbahn zu, die Mondbewohner tun das Gleiche mit der Bewegung des Mondes, die sich zusammensetzt aus der jährlichen Bewegung der Erde und der monatlichen Bewegung des Mondes und sich um die Sonne herum vollzieht. Dem Merkur, der Venus und dem Mars schreiben sie die Bewegung viel komplizierter zu, nämlich mit Einschluss der offenkundigen eigenen Bewegungen.«

In einem Punkt freilich vereinfacht der Kommentar die Lektüre. Man kann ihm entnehmen, dass der erstinstanzliche Ich-Erzähler getrost als Kepler selbst aufgefasst werden darf, mag er seinen Traum nun wirklich geträumt (und dann in weiten Teilen literarisch ausgestaltet) oder gänzlich frei erfunden haben.

Politisch

Auf Kepler und seine Zeit bezogen ist Der Traum unschwer als Kampfschrift erkennbar. Aber die Kampflinien sind ihrerseits verwickelter Art. Galileo Galileis epochemachender Sidereus Nuncius (Nachricht von neuen Sternen) war noch nicht erschienen, der Blick durchs Fernrohr noch nicht getan. Daher der Triumph des nachträglichen Kommentars zu der Behauptung, die Mondlandschaft weise »sehr hohe Berge sowie sehr tiefe und weite Täler« auf: »Dieser Satz des ›Somnium‹ ist älter als das holländische Teleskop […] Aber ihn bestätigt glänzend der Gebrauch des Fernrohrs sowie die Beobachtungen Galileis.«

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