Mission Possible
Die Realität der Apollo 11 von Bernhard J. DotzlerAls vor fünfzig Jahren der erste Mensch den Mond betrat, war dies das Ergebnis einer fast unübersehbaren Vielzahl von Balanceakten. Sie konnten gelingen, weil lange vorher, um 1810, ein gewisser Johann Gottlieb Friedrich Bohnenberger das Gyroskop erfunden hatte. Wie für die Luft- und Raumfahrt im Ganzen kann man auch von der Mondexpedition ohne Erwähnung dieses Balance-Instruments par excellence nicht reden. Ausgehend davon soll es im Weiteren dann selbstverständlich auch um die Bilanz gehen, die immer schon on board ist, wenn man im Englischen von balance spricht: um eine Bilanzierung also des Balanceakts, den die Apollo vollbrachte. Zu beginnen ist aber mit einem Loblied auf die Bohnenberger-Maschine.
Balanceakte
Was nämlich vermag eine Bohnenberger-Maschine alias Kreiselinstrument alias Gyroskop? Das Gyroskop, könnte man sagen, begabt das, was vorher ein fühlloses Ding gewesen sein mag, mit Gleichgewichtssinn. Ja, es führt eine Art Gleichgewichtssinn sogar draußen im Weltall ein, in der Schwerelosigkeit, wo es viel auszubalancieren, streng genommen ja aber keine Äquilibristik mehr gibt. In schnelle Drehung versetzt, behält ein kardanisch aufgehängter Kreisel – und nichts anderes ist ein Gyroskop – seine Rotationsachse in einem Inertialsystem bei. So macht es dessen Lage erstens messbar und zweitens anhand der Messwerte kontrollierbar. Als das Herzstück von Trägheitsnavigationssystemen stattet es Raketen und Raumschiffe mit der Begabung zur Selbstlenkung aus. Eintrag zur Trägheitssteuerung im NASA-Press-Kit der Apollo-11-Mission: »Inertial Guidance – Guidance by means or the measurement and integration of acceleration from on board the spacecraft. A sophisticated automatic navigation system using gyroscopic devices, accelerometers etc., for high-speed vehicles. It absorbs and interprets such data as speed, position, etc., and automatically adjusts the vehicle to a predetermined flight path. Essentially, it knows where it’s going and where it is by knowing where it came from and how it got there.«
Mit solcher technischen Ausstattung erhöht sich aber freilich auch die Schwierigkeit, die zumindest in der jüngsten Romanliteratur (in Michael Chabons Moonglow von 2016) zugleich als Schönheit der Raumfahrt bezeichnet wurde: Man muss entsagen können. Um nämlich die »Entweichungsgeschwindigkeit« zu erreichen, sind alle »Raumfahrer gezwungen, so gut wie alles hinter sich zu lassen«, und auch die Raumschiffe selbst wie die sie ins All befördernden Trägerraketen unterliegen dem Gebot, auf jedes überflüssige Kilogramm verzichten zu müssen. Schon die Befüllung mit Treibstoff ist so ein Balanceakt für sich. Mit jedem Liter wird die Rakete nur schwerer; je schwerer, desto größere Mengen Treibstoff müssen aufgetankt werden.
Die Lösung für die Apollo-Mission fand sich in den Konzepten erstens des »Weltraumbillard« und zweitens des »Lunar orbit rendezvous«. Mit der Idee der Eagle, schreibt Norman Mailer über Letzteres – also erst mit der Konzeption einer eigenen Mondlandefähre, die vom Mutterschiff aus den fernen Himmelskörper besucht und wieder zurückkehrt –, »begann das Mondprogramm erst wirklich«. Man würde nicht eine ganze Rakete auf den Mond schießen und dort oben erneut starten lassen, um wieder zurückzufliegen. Man würde vielmehr die Apollo in eine Mondumlaufbahn bringen, von wo aus die kleinere und sehr viel leichtere Eagle mit weitaus weniger Treibstoff auf dem Mond landen und wieder abheben kann. Und auch für den Weg in diese Umlaufbahn würde man Energie sparen, indem man die Rakete zum einen in Stufen abbrennen und die stufenweise geleerten Tanks einen nach dem anderen abwerfen würde und indem man zum anderen besagtes Weltraumbillard spielen, also die für den Hinflug nötige Treibstoffmenge genau so weit reduzieren würde, dass ihre Schubkraft beziehungsweise die erzielte Fluggeschwindigkeit ausreicht, das Raumschiff gerade an jenen Punkt außerhalb der Erde zu bringen, an dem die Verlangsamung durch die Erdanziehung aufhört und erneute Beschleunigung durch die Anziehungskraft des Monds beginnt – wobei die Beschleunigung wiederum nicht zu weit gehen darf, damit das Raumschiff nicht über sein Ziel hinausschießt, sondern sich von dessen Schwerefeld einfangen lässt.
So erdacht, und so getan, nachzulesen in Mailers Bericht: »Ja, Apollo 11, nach dem Flug von der Erde zur Erdumlaufbahn und dann dem Flug von der Umlaufbahn (mithilfe der letzten Zündung der dritten Stufe) in die Bahn zum Mond, dieses Raumschiff Apollo 11 [richtete] seine Nase auf den Mond (beziehungsweise auf einen Punkt, an dem es sich in drei Tagen mit dem kreisenden Mond treffen musste) und glitt nach dem endgültigen Brennschluss seiner dritten Stufe mit einer Geschwindigkeit von 39 260 Kilometern pro Stunde […] hinauf zum Mond, hob sich selbst empor gegen die immer lockerer werdenden Fesseln der gierigen Erde, die alles Fliegende wieder zu sich zurückziehen will. Apollo 11, ein schimmernder Tempelherr aus Aluminium, stieg nun in aller Herrlichkeit als reinste Demonstration der Bewegungsgesetze Newtons in den Weltraum […], immer weiter stieg das Raumschiff empor, balancierte auf dem schmalen Grat zwischen seiner nachlassenden Beschleunigung einerseits und der gleichfalls immer schwächer werdenden Anziehungskraft der Erde andererseits, und während es emporstieg, immer weiter hinweg von der gewaltigen Masse der Erdkugel, näherte es sich ständig dem Einflussbereich des Monds.«
Während dieser Reise wie dann auch in der Mondumlaufbahn gab es reichlich weitere Balanceakte zu bewältigen – nicht zuletzt in Gestalt jener Rendezvous- und Andockmanöver, die die Trennung zwischen Mutterschiff und Landefähre erforderlich werden ließ. Wie man für die Trajektorien um die und zwischen den Himmelskörpern vom »Weltraumbillard« gesprochen hat, sprach man von diesem Tanz der Flugkörper (sicherlich auch inspiriert von Stanley Kubrick) als »Weltraumballett«.
In dieses Bild fügt sich, dass der erste auf dem Mond aufsetzende »lunar module pilot«, Buzz Aldrin, über genau dieses Thema promoviert hatte und dass es dem Commander von Apollo 11, Neil Armstrong, drei Jahre zuvor mit Gemini 8 als Erstem gelungen war, ein Rendezvous- und Kopplungsmanöver mit einem Zielflugkörper im All durchzuführen. Was hierbei geschah, ist ebenso fester Bestandteil der NASA-Folklore, wie auch das jüngste Biopic über den ersten Menschen auf dem Mond dieser Vorgeschichte ein filmisches Denkmal setzt.
Damien Chazelles First Man (Aufbruch zum Mond, 2018) beginnt mit einem von Armstrongs X-15-Testflügen, bei dem er, durchgerüttelt von der Raketengeschwindigkeit seiner Maschine, fast das Weltall erreicht, jedenfalls optisch die Erdatmosphäre verlässt und sie als Hülle um den runden Globus unter sich sieht, einen Moment der Schwerelosigkeit erlebt und beim Wiedereintritt in die dichteren Luftschichten beinahe die Kontrolle über das Flugzeug verliert. Es folgt, nach Szenen aus seinem Privatleben, sein Wechsel zum Raumfahrtprogramm, wo er sich im Rotationstraining mit dem Multi-Axis-Trainer bewährt, einem Gerät zur Simulation der Trägheitskopplung in drei Achsen, dessen Plattform es zu stabilisieren gilt, bevor sein Insasse im Strudel seiner Drehungen das Bewusstsein verliert. Und dann – nach knapp einem Drittel des Films – gerät er zum Helden der Gemini-8-Mission. Deren Start zeigt der Film in leitmotivisch wiederholten Bildern wie denen von Armstrongs X-15-Erfahrung: Der Aufstieg der Rakete ist purer Lärm und Rüttelei; erst in der Schwerelosigkeit kehrt Ruhe und Frieden ein. Zusammen mit seinem Co-Piloten Dave Scott gelingt es Armstrong, den Zielflugkörper zu erreichen und, begleitet von Walzerklängen ähnlich denen in Kubricks Weltraumepos, anzudocken. Aber plötzlich geraten die Gemini-Kapsel und ihr siamesischer Zwilling ins Trudeln. Ihre immer schnellere Rotation droht den Astronauten – unerbittlicher als das Multi-Axis-Übungsgerät – das Bewusstsein zu rauben. Die Bodenstation ist rat-, hilf- und machtlos. Doch Armstrong vollführt die unglaubliche Tat und bringt das Raumschiff wieder unter seine Herrschaft.
Orrin E. Dunlap, Communications in Space. From Marconi to Man on the Moon. New and Expanded Edition. New York: Harper & Row 1970.
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