Heft 856, September 2020

Orientierungssinnlosigkeit

von Bernhard J. Dotzler

»Und an dem Ufer steh ich lange Tage, || Das Land der Griechen mit der Seele suchend; || Und gegen meine Seufzer bringt die Welle || Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.« Iphigenie steht also an der Küste der Krim und blickt übers Meer gen Südwest. Sie sehnt sich nach Hause, und weil der Dichter ihr Sehnen als Suchen bezeichnet, darf man auch sagen, sie orientiert sich Richtung Heimat, ganz wie das damit herangezogene Wortfeld erlaubt, das Pathos des Heimwehs durch die schlichte Angabe der Himmelsrichtung zu ersetzen. Von da nämlich kommt der Ausdruck her, wie der Philosoph aus dem heutigen Kaliningrad (so viel nördlicher noch als die Krim) kurz vor Erscheinen der Iphigenie in Erinnerung gerufen hat: »Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang [Orient] zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel, und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden.«1

Wäre es Iphigenie aber auch so ergangen, wie das Schauspiel es erzählt, wenn die Göttin Diana sie nicht nach Tauris, sondern, sagen wir, auf den Mond (Dianas eigenstes Gestirn) entführt hätte? Wie ihr nach dem Willen des Fast-Olympiers Goethe auf Erden geschah, ist bekannt. Aufgrund ihres Heimwehs, ihrer Orientierung, fühlt Iphigenie sich entzweit: hier die Dankesschuld und ihre Pflicht als Diana-Priesterin; da ihre Sehnsucht in die Ferne zu den Eltern und Geschwistern. Aber selbst als der Bruder kommt und ihr wie sich, der sonst des Todes, zur Flucht verhelfen will, gelingt ihr die Orientierung in und aus sich selbst in jenem weiteren Sinn, wie Kant ihn entwickelt hat: »Iphigenie, gehorsam dem kategorischen Imperativ der damals noch ungeschriebenen Kritik der praktischen Vernunft [aber die Metaphysik der Sitten war immerhin schon erschienen], desavouiert aus Freiheit, aus Autonomie ihr eigenes Interesse, das des Betrugs bedarf«, um lieber nicht zu betrügen, lieber »das Gebot von Wahrheit« zu achten.2

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