Orientierungssinnlosigkeit
von Bernhard J. Dotzler»Und an dem Ufer steh ich lange Tage, || Das Land der Griechen mit der Seele suchend; || Und gegen meine Seufzer bringt die Welle || Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.« Iphigenie steht also an der Küste der Krim und blickt übers Meer gen Südwest. Sie sehnt sich nach Hause, und weil der Dichter ihr Sehnen als Suchen bezeichnet, darf man auch sagen, sie orientiert sich Richtung Heimat, ganz wie das damit herangezogene Wortfeld erlaubt, das Pathos des Heimwehs durch die schlichte Angabe der Himmelsrichtung zu ersetzen. Von da nämlich kommt der Ausdruck her, wie der Philosoph aus dem heutigen Kaliningrad (so viel nördlicher noch als die Krim) kurz vor Erscheinen der Iphigenie in Erinnerung gerufen hat: »Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang [Orient] zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel, und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden.«1
Wäre es Iphigenie aber auch so ergangen, wie das Schauspiel es erzählt, wenn die Göttin Diana sie nicht nach Tauris, sondern, sagen wir, auf den Mond (Dianas eigenstes Gestirn) entführt hätte? Wie ihr nach dem Willen des Fast-Olympiers Goethe auf Erden geschah, ist bekannt. Aufgrund ihres Heimwehs, ihrer Orientierung, fühlt Iphigenie sich entzweit: hier die Dankesschuld und ihre Pflicht als Diana-Priesterin; da ihre Sehnsucht in die Ferne zu den Eltern und Geschwistern. Aber selbst als der Bruder kommt und ihr wie sich, der sonst des Todes, zur Flucht verhelfen will, gelingt ihr die Orientierung in und aus sich selbst in jenem weiteren Sinn, wie Kant ihn entwickelt hat: »Iphigenie, gehorsam dem kategorischen Imperativ der damals noch ungeschriebenen Kritik der praktischen Vernunft [aber die Metaphysik der Sitten war immerhin schon erschienen], desavouiert aus Freiheit, aus Autonomie ihr eigenes Interesse, das des Betrugs bedarf«, um lieber nicht zu betrügen, lieber »das Gebot von Wahrheit« zu achten.2
Iphigenie macht also nicht Gebrauch von ihrem ohnehin nur – in Kantischer Diktion – vermeinten Recht, aus Menschenliebe zu lügen. Stattdessen rettet sie ihre Seele vor dem Verrat, indem sie darauf vertraut, dass »die Stimme || Der Wahrheit und der Menschlichkeit« von jedem und jeder, »Geboren unter jedem Himmel«, vernommen wird. Damit folgt sie dem »Begriff des Verfahrens sich zu orientieren« gemäß jener Erweiterung, die Kant ihm gab, als er in seinem gleichnamigen Aufsatz erläuterte, was es hieße, sich »nicht bloß im Raume«, sondern »überhaupt im Denken« zu orientieren. In Goethes Schauspiel ist vom »kindlich Herz« die Rede, das Iphigenie sich orientieren lässt, wie sie sich orientiert. Aber auch wenn insoweit nicht die reine oder bloße Vernunft auf der Bühne steht, Iphigenie sucht und findet den »obersten Probierstein« für die Richtigkeit – die rechte Richtung – ihres Handelns doch rein »in sich selbst«, indem sie die von ihrer inneren Stimme verfochtene Maxime der Menschlichkeit als nicht nur ihren, sondern allgemeinen Menschheitsgrundsatz prüft und für »tunlich« erkennt. So realisiert sie, wie Goethe es nannte: höchste Humanität.
Wäre ihr dies nun etwa auch auf dem Mond geglückt? Das ist noch bescheiden gefragt, doch weiter als bis zum Mond ist der Mensch bislang ja noch nicht gekommen. Gleichzeitig mag die Frage absurd erscheinen – bis man sich einmal vor Augen hält, welch absonderliche Überlegungen tatsächlich schon angestellt wurden, um zu klären, wie es um den menschlichen Orientierungssinn draußen im Weltall bestellt sein mag.3 Den Vogel dabei abgeschossen hat wohl Jacques Lacan. Kaum hatten Juri Gagarin, German Titow und John Glenn ihre Erdumrundungen vollbracht, da bekundete er schon sein Interesse, »mit einem von ihnen einen kleinen phänomenologischen Dialog zu führen, während er da oben ist«.
Auf Kant bezieht diese Neugier sich insofern, als Lacan hätte erfahren wollen, was »mit dem Raum- und Zeitgefühl« im Zustand der Schwerelosigkeit geschieht. Als Psychoanalytiker interessierte ihn aber noch mehr, wie sich dieses wiederum zu einer Bemerkung in Freuds Traumdeutung verhält. Ein »guter Teil der Fliegeträume«, heißt es dort, dürften »Erektionsträume« sein, »da das merkwürdige und die menschliche Phantasie unausgesetzt beschäftigende Phänomen der Erektion als Aufhebung der Schwerkraft imponieren muß«. Wie aber steht es um diese Aufhebung, wenn die Schwerkraft schon aufgehoben ist? Was können »wir heute in der Erfahrung des Kosmonauten« wohl diesbezüglich »ertasten«, fragt sich Lacan, um auch die Antwort in eine aber nur noch rhetorische Frage zu kleiden: »Führt die Tatsache, dass er ganz im Inneren einer Maschine festsitzt, die so eindeutig – und ich meine das im materiellen Sinn des Wortes – Inkarnation und Manifestation des phallischen Phantasmas ist, nicht zu einer Entfremdung – insbesondere von seinem Verhältnis zu den für das männliche Begehren natürlichen Funktionen der Schwerelosigkeit?«
Einfacher (und ohne Fixierung auf die unausgesetzte Beschäftigung der menschlichen = männlichen Fantasie) gesagt: Wie viele Denker – und dank Hannah Arendt auch eine Denkerin – zu Zeiten des space race vermutet Lacan, dass es um den Orientierungssinn des Menschen draußen im Weltall geschehen sei. Von Entwurzelung und Bodenlosigkeit liest man, wie leicht zu erraten, bei Heidegger. »Alle Vorkommnisse auf der Erde sind relativiert«, notierte Arendt.4
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