Heft 907, Dezember 2024

Michel Foucault und /oder die Aufklärung?

von Matthias Rothe

Es geht wieder einmal um Foucault. Die zeitverzögerte Veröffentlichung seiner Schriften, vor allem Rechtsfragen geschuldet, stellt im Lager seiner Anhänger immer wieder zur Verhandlung, wer dieser Foucault denn nun eigentlich war. Die umfangreiche Sammlung von Texten und Interviews aus allen Lebensdekaden, Dits et Ecrits, erscheint 1994, dann werden von 1997 bis 2015 seine Vorlesungen aus den siebziger Jahren nachgereicht, 2008 wird Foucaults Dissertation von 1961 zur Anthropologie Kants veröffentlicht, 2018 erscheint Les aveux de la chair (Die Geständnisses des Fleisches), der 1984 geschriebene vierte Band der Geschichte der Sexualität, und 2023 wird ein bereits 1966 ausgearbeitetes Buch Der Diskurs der Philosophie verlegt.

Was Foucault auch im Gespräch hält, ist der sich beständig erneuernde Widerstand gegen seine Ideen, und zwar von links bis ganz rechts; jeder neu zugängliche Text liefert den Gegnern nur neue Beweise seiner Gefährlichkeit (auf Differenzierung wird dabei in aller Regel verzichtet). Schon Habermas hatte 1980 Foucault zum konservativen Antimodernisten erklärt, der sich von den Werten der Aufklärung verabschiedet habe, ein hemmungsloser Dezentrierer. Und jüngst, im Jahr 2023, mit dem Aufstieg rechter Populisten und einer Linken, die vermeintlich den Klassenkampf oder zumindest echte soziale Belange einem Kulturkampf opfert, wiederholt unter anderem Susan Neiman den Vorwurf und sieht in Foucault die wichtigste Quelle für die Attraktivität eines unter »woke« und »Identitätspolitik« firmierenden spalterischen Kulturkampfs.

Seine Ideen, so die Unterstellung, seien zur materiellen Gewalt geworden, weil sie, vermittelt über die Universitäten, die Massen ergriffen hätten – nicht nur hier überschneiden sich der linke und rechte Diskurs. Foucault, so Neiman, dekonstruiere die Idee des Fortschritts, den Universalismus und den Wert der Gerechtigkeit. »Small wonder many have concluded that the man was simply a nihilist.« Sie verweist wiederholt auf Foucaults Vorlesungen zum Neoliberalismus – »nowhere is his refusal to take a normative stance more infuriating«. Seit langem steht daher die Verdächtigung im Raum, Foucault selbst sei ein verkappter Neoliberaler (auch zu seiner Homosexualität wollte er sich schließlich lange nicht bekennen).

Dass Foucault das Funktionieren von Institutionen, Machtdynamiken und Rationalitäten beschreibt, ohne Verbesserungsvorschläge einzureichen oder Utopien zu formulieren, hat immer schon viele an ihm irritiert. Die nüchterne, teils akademisch faszinierte Analyse einer neu aufkommenden Kosten-Nutzen-Rationalität, die scheinbar nicht mehr der fordistischen Normierungsgewalt bedarf (Neoliberalismus wurde erst in den 1990er Jahren zum Schlagwort), macht Foucault zum Neoliberalen, so wie seine Beschreibungen vormoderner Strafjustiz ihn zuvor vermeintlich als Verteidiger öffentlicher Folter entlarvt hatten.

Neiman ärgert das Fehlen von Gegenentwürfen ebenso bei Horkheimer und Adorno, die sie oft zum Vergleich heranzieht: »I recently talked to a scholar of their famous Dialectic of Enlightenment, who argued that their whole project was to deconstruct the foundations of the Enlightenment in order to construct a new enlightenment on better foundations. And then I said: can you show me where? The answer was: ›Well, they never wrote the second part!‹ (laughs).«

Der Vergleich ist gut gewählt; er hilft zu verstehen, was solche Kritik sich stumpfstur weigert zu sehen, denn der Witz liegt nicht etwa darin, dass die Dialektik der Aufklärung nicht in der Lage war, neue Aufklärungs-Richtlinien zu verabschieden, sondern darin, dies überhaupt von ihr erwartet zu haben. Damit wäre das Projekt bereits verkannt (ich vermute, Neiman hat hier sarkastisch gelacht und nicht über sich selbst). »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Welt strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«, so die berühmten ersten Sätze der Dialektik der Aufklärung. Das Wissen der Aufklärung, so heißt es wenige Zeilen danach, »zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital«. – »Die ›Aufklärung‹, welche die Freiheiten entdeckt hat«, so Foucaults ebenso berühmte Formulierung, »hat auch die Disziplinen erfunden«, und er ergänzt ähnlich, »es handelt sich um Machtmechanismen, die […] durch Wertschöpfung wirken, indem sie sich in die Produktivität der Apparate, in die Steigerung dieser Produktivität […] vollständig integrieren.«

Woran sich Adorno, Horkheimer und Foucault also abarbeiten, ist die schwer zu leugnende Gleichzeitigkeit der Durchsetzung jener großen Werte: Freiheit, Gerechtigkeit, Universalismus usw. mit neuen Formen von Ungleichheit, Ausbeutung und Herrschaft; dazu gehört zweifelsohne das Fortbestehen des Kolonialismus unter neuen Vorzeichen (zum Beispiel einem effizienteren Zwangsarbeitsregime), aber für Adorno war der unhintergehbare Bezugspunkt die Schoa – die Dialektik der Aufklärung wurde 1944 geschrieben.

Für Foucault, daran interessiert, wie sich die gesellschaftlich je nützlichen Normen im Selbstverständnis der Einzelnen verankern (das gilt übrigens auch für die Neoliberalen), war der Auslöser wohl vollkommen anders gelagert. Sicher spielte eine Rolle, dass er im autoritären Frankreich De Gaulles eine existentielle Nichtzugehörigkeit erfuhr. Die Gesetzgebung des Vichy-Regimes zur Homosexualität wurde in der Vierten und Fünften Republik nicht nur übernommen, sondern verschärft.

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