Heft 893, Oktober 2023

Rechtskolumne

Notbremse gegen die Notstandslogik: Brauchen wir ein demokratisches Recht auf Entschleunigung? von Florian Meinel

Notbremse gegen die Notstandslogik: Brauchen wir ein demokratisches Recht auf Entschleunigung?

1923, das Krisenjahr der Weimarer Republik und ihrer Verfassung, dessen stupende Parallelen zur Gegenwart eine Flut von Neuerscheinungen ausgelotet hat,1 markiert nicht zuletzt den Beginn der modernen Parlamentarismuskritik – und das Ende der alten. Die Konservativen hatten die parlamentarische Regierung von jeher abgelehnt, weil sie zwangsläufig allgemeines Wahlrecht, also die politische Inklusion nicht urteilsfähiger Volksmassen bedeutete. Marx wiederum, weil er nicht nur die Verknüpfung von Wahlrecht und Besitz, sondern auch Repräsentation für Ideologie und damit für ein Element der Klassenherrschaft hielt. Nun aber gab es seit dem November 1918 gleiches Wahlrecht und gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit; weder die eine noch die andere Form von Parlamentarismuskritik konnte insofern einfach fortgeschrieben werden. Die moderne Form des Antiparlamentarismus, die Carl Schmitt in seinem Buch über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923 erfand, argumentiert stattdessen demokratisch.

Liberale Diskussion und demokratische Diktatur

Das Prinzip des Parlamentarismus, so Schmitts bekanntes Argument, sei »relativer Rationalismus«; der liberale Glauben an die Gesetzgebung als Prozess der Etablierung der öffentlichen Meinung in einer unendlichen Diskussion. Tatsächlich sei er aber nur eine Fassade von Parteiführungen und Interessenverbänden. Wirkliche Demokratie hingegen bedeutet die Fähigkeit zu unmittelbarem Handeln, bedeutet eine plebiszitär legitimierte Diktatur, die sich am Ausnahmezustand bewährt.

Das Argument war in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Vor allem, weil es ein ganz spezifisches Problem des im Kaiserreich entwickelten deutschen Parlamentarismus für ein allgemeines ausgab. Gerade der Reichstag des Kaiserreichs war aus vielen Gründen gezwungen, sich vor allem mit der Beratung von Gesetzgebungsprojekten zu profilieren: Er hatte wenig Zugriff auf die kaiserliche Regierung, die ihrerseits zunehmend auf plebiszitäre Techniken der Legitimation setzte.2

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