Schattengeboren
Zum Werk von Emine Sevgi Özdamar von Ekkehard KnörerZum Werk von Emine Sevgi Özdamar
Einmal ist Emine Sevgi Özdamar in einen Literaturskandal geraten. Das war im Jahr 2006 und hatte mit einem Buch von ihr zunächst gar nichts zu tun. Ausgelöst wurde alles vielmehr von Feridun Zaimoglus Roman Leyla, in dem er in fiktionaler Gestalt die Geschichte seiner Mutter erzählt, von ihrer Kindheit vor allem, ihrem Aufwachsen in der ostanatolischen Stadt Malatya. Der Roman wurde rundum besprochen, allseits gelobt, sehr viel mehr besprochen und auch gelobt als etwa Özdamars drei Jahre davor erschienenes Buch, der Tagebuch-Roman Seltsame Sterne starren zur Erde. Dann aber stellte eine bis heute anonyme Germanistin eine Liste zusammen mit zahlreichen und in dieser Häufung verdächtigen, vor allem motivischen Ähnlichkeiten zwischen Zaimoglus Leyla und Özdamars erstem Roman Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein – aus der anderen ging ich raus (von 1992).
Die Aufregung war groß, Besuche bei der Autorin, vergleichende Analysen, Zaimoglu erkennt selbst »frappierende« Nähen, beteuert aber, nie eine Zeile von Özdamar gelesen zu haben (er lese nur Krimis und Thriller), die Ähnlichkeiten hätten damit zu tun, dass seine Mutter und Emine Sevgi Özdamar beide aus der Stadt Malatya stammten – die heute eine Großstadt ist, in beider Kindheit war sie noch deutlich kleiner. Irgendwann stellte sich heraus, dass es eine weitere, überraschende, aber bei näherer Betrachtung gar nicht so unwahrscheinliche Verbindung gab. Eine Tante Zaimoglus hatte in den sechziger Jahren nämlich im selben Berliner Wohnheim gegenüber vom Hebbel-Theater gelebt wie Özdamar auch (es ist der Özdamar-Leserin als zentraler Ort in Die Brücke vom Goldenen Horn unter »Wonaym« bekannt). Da sei es zum Austausch von Geschichten gekommen, auch so lasse sich manche Parallele erklären.
Völlig konträre Positionen wurden in teils scharfem Ton mit entschiedener Überzeugung vorgetragen, auf jeden Fall Plagiat beziehungsweise ganz sicher reiner literarischer Zufall. Entscheiden kann das letztlich nur jede für sich im direkten Vergleich der beiden in ihrer literarischen Machart sehr verschiedenen Bücher, oder man kommt zur Erkenntnis, dass das eine wie das andere tatsächlich denkbar ist. Özdamar selbst war von der ganzen Angelegenheit sehr verstört, zumal das Buch nicht nur im selben Verlag wie ihre eigenen Bücher erschienen war (Kiepenheuer & Witsch), der Verleger Helge Malchow hatte sogar Özdamars Karawanserei-Roman selbst lektoriert.
Sie erhob allerdings nie den Vorwurf des Plagiats, es war etwas anderes, das sie im Kern ihres Selbstverständnisses als Autorin traf: Nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker führten die Ähnlichkeiten nämlich darauf zurück, dass sich Özdamar wie Zaimoglu eben aus dem beiden gemeinsamen Schatz der Topik der türkischen Kultur und typisch türkischer Sprachbilder, Redewendungen und Metaphern bedient hätten. Soll heißen: Es sind gar nicht Özdamars eigene Bilder, Bild- und Sprachfindungen, die man in ihren Büchern findet, sie seien eben auf überindividuelle Weise irgendwie türkisch. Zugespitzt also das Argument: Während Elfriede Jelinek deutsch wie Elfriede Jelinek schreibt und Herta Müller deutsch wie Herta Müller, schreibe Emine Sevgi Özdamar, und sei es noch so grandios, deutsch wie eine Türkin. Die Falle des Othering: Das Individuum wird über eine kollektivierende Fremdheitswahrnehmung dekonturiert, die sich nicht auf Kenntnis des Fremden stützt, sondern auf nichts als Klischees.
Die Kränkung saß und sitzt tief. Das zeigt Özdamars neues Buch, Ein von Schatten begrenzter Raum, achtzehn Jahre nach ihrem letzten Roman erschienen, ein unendlich reiches Buch, ein Opus magnum in jedem Sinn des Begriffs, ein Buch, in dem es um sehr vieles geht, aber auch ein Buch, in dem die Autorin auf diese Kränkung zurückkommt. Und zwar mehrfach. Es sind weissagende (türkische) Krähen, denen sie die folgenden Worte in den Mund legt: »Diese Schöpfungen, die du aus deinem eigenen Körper ausgraben wirst, werden als Türkisch registriert. Sie werden sagen, schauen Sie, wie schön die türkische Sprache ist. Keiner kann Türkisch, aber plötzlich wissen sie, dass es Türkisch ist. Du landest in der türkischen Schublade. Europa, Berlin, Tiergarten der Sprache, hier sind die türkischen Tiere, als wäre die Türkei ein Dorf, in dem alle Einwohner die gleichen Geschichten haben und mit den gleichen Sätzen sprechen.»
Das ist nicht das letzte Wort zu der Sache, wie das Ich, das sie adressieren, nicht das erste und einzige Ich ist, und alle drei, die Krähen und das eine und das andere Ich, sind, so sehr die beiden Ichs ihr auch ähneln, nicht mit der Autorin zu verwechseln. Dennoch ist die Erbitterung über die Schubladisierung, die umstandslose Verwechslung der idiosynkratischen Metaphern, Bilder, der Özdamar-Sprache mit dem Klischee der, mit Barthes gesprochen, Türkizität, ist die Verärgerung über das Othering, die Unfähigkeit zur Differenzierung und Anerkennung des Besonderen nicht nur echt, sondern auch mehr als berechtigt.
Denn wenn eine Biografie einzigartig ist, und einzigartig auch die aus ihr hervorgegangene Literatur, dann ist es die von Emine Sevgi Özdamar. Was aus ihr werden sollte, wohin es sie verschlagen würde, ihr Weg (vielmehr: ihre Wege) ins Theater, ihr Weg (ihre Wege) nach Deutschland, ihr Weg zur Schriftstellerin deutscher Zunge, nichts davon war ihr an der Wiege gesungen. Auf wiederum einzigartige Weise ist Özdamars Literatur mit der eigenen Biografie nicht nur eng verbunden, es ist vielmehr das eine ins andere unlöslich geschlungen: An der Frage nach dem Zusammenhang von Biografie und Literatur führt, weil Letztere ihn insistent herstellt, bei der Lektüre kein Weg vorbei.
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