Heft 884, Januar 2023

Testfall Thüringen

Mittagessen bei der Konkubine von Patrick Bahners

Mittagessen bei der Konkubine

Am 4. Februar 2020, dem Tag vor der Ministerpräsidentenwahl, fuhr Thomas Kemmerich nach Berlin. Sein Pressesprecher Thomas Philipp Reiter dokumentierte einen Höhepunkt des Besuchs: Zum Mittagessen war man im China Club Berlin verabredet. Das Etablissement in einem Anbau des Hotels Adlon macht Werbung damit, dass es der exklusivste Privatclub Deutschlands sei. »Der China Club Berlin ist ein diskreter Rückzugsort, weg von der Hektik der Stadt und gleichzeitig ein Ort der Begegnung und des Austausches. Er ist ein Arkadien für seine Mitglieder geworden, das sie in eine Welt des Genusses entführt.« Wer als Mitglied aufgenommen wird, muss einen Aufnahmebeitrag von 10 000 Euro und einen Jahresbeitrag von 2000 Euro entrichten. Auch Kemmerich war in Arkadien und fühlte sich »cool«, wie der Facebook-Eintrag seines Begleiters vermerkte. Die vergoldeten Paneele im Foyer stammen angeblich aus einem echten chinesischen Palast. Eines der drei von Reiter verbreiteten Fotos zeigt die Tür der Suite, in der die Gäste aus Erfurt ihr Mittagessen einnahmen. Ihr Gastgeber hatte einen Rückzugsort im Rückzugsort gebucht, zur Maximierung der Diskretion. Allerdings war an der Tür ein Kärtchen mit seinem Namen angebracht, den auch Reiters Facebook-Freunde lesen konnten: Dr. Dr. Rainer Zitelmann. Auch die Suite hatte einen Namen: Concubine II.

In den sozialen Medien präsentiert sich Zitelmann als Historiker, Soziologe und Immobilieninvestor sowie als Autor von 25 Büchern über Geschichte, Politik, Finanzen und Erfolg. Bei Facebook hat er mehr als 43 000 Abonnenten. Die Thüringer unter ihnen bat er vor der Landtagswahl 2019, der FDP wegen ihres Landesvorsitzenden ihre Stimmen zu geben: »Kemmerich, ein guter Mann. Er will die FDP so positionieren, wie ich dies auch für richtig halte.« In einem Kommentar für The European, den Zitelmann noch am Tag der Wahl Kemmerichs veröffentlichte, bestimmte er dessen parteiinterne Stellung im Kontrast zu Gerhart Baum, dem sozialliberalen Veteranen, der den thüringischen Coup sogleich verurteilt hatte: Kemmerich habe sich »gegen Political Correctness, gegen Ökohysterie und für eine wirksamere Begrenzung der Zuwanderung ausgesprochen«. Zitelmann äußerte die Hoffnung, dass es dem gewählten Ministerpräsidenten gelingen werde, trotz der auch von Parteifreunden geäußerten Kritik genug Unterstützung für seine Regierung zu finden, ohne die AfD und mit der SPD. Gleichzeitig sagte er voraus, was dann tatsächlich geschah.

Die Unfähigkeit Kemmerichs, die nötige parlamentarische Unterstützung zu organisieren, deutete Zitelmann schon im Voraus als Resultat eines Kampfes in der Öffentlichkeit und um die Öffentlichkeit, in dem die Initiative von professionellen Akteuren der Öffentlichkeit ausgehen werde. Ein aus der Geschichte der Bundesrepublik bekanntes Muster solcher Kämpfe sollte sich demnach wiederholen. »Es wird jetzt in den Medien ein Kesseltreiben gegen Kemmerich geben, mit dem Ziel, ihn aus dem Amt zu verdrängen und politisch mundtot zu machen, so wie man es mit vielen Politikern von Steffen Heitmann bis Hans-Georg Maaßen gemacht hat.« Steffen Heitmann, von 1990 bis 2000 sächsischer Justizminister, war 1993 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl für die Nachfolge des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vorgeschlagen worden. Heitmann widerrief seine Bereitschaft zur Kandidatur, als er mit öffentlichen Einlassungen Kritik ausgelöst hatte, die als Fundamentalkritik von rechts am Commonsense der erweiterten Bundesrepublik aufgefasst wurden. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung hatte er behauptet, dass die »intellektuelle Debattenlage« in wesentlichen Punkten mit »dem Empfinden der Mehrheit der Bürger« nicht übereinstimme. Drei Tabus zählte er auf, die man »nicht unbestraft« ansprechen könne: »das Thema Ausländer«, »das Thema Vergangenheit Deutschlands« und »das Thema Frauen«. 2015 trat Heitmann aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel aus der CDU aus. Sein Rückzug als Präsidentschaftskandidat wurde auf der Rechten als die Bestrafung des Tabubrechers beklagt, die er selbst an die Wand gemalt hatte. Sie konnte auch als Kränkung Ostdeutschlands verbucht werden, da Kohl die Nominierung des Landesministers für das protokollarisch erste Amt im Staat als Beitrag zur Vollendung der Wiedervereinigung ausgegeben hatte.

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