Heft 865, Juni 2021

Dekontaminierte Landschaften

Holocaustgedenken in Polen von Jochen Rack

Holocaustgedenken in Polen

Auf einem Waldweg bei Łomazy kommt uns ein Bauer mit dem Fahrrad entgegen, der weiß, wo die Erschießungen stattgefunden haben. Es ist eine Szene wie aus Claude Lanzmanns Film Shoah. Augenzeugen des Holocaust gibt es fast keine mehr, aber die Menschen, die an den Orten der einstigen Massenmorde wohnen, haben die Geschichte nicht vergessen. Seine Großmutter und sein Vater, der damals vierzehn Jahre alt war, hätten die Exekutionen heimlich beobachtet, erzählt uns der 1960 geborene Piotr Szatalowicz, ihr Anwesen lag direkt neben dem Wald. Zwar hätten die Deutschen die Bauern vor ihrer Aktion weggeschickt, aber die Bewohner von Łomazy wussten alle, was geschah. Die Gemeinde ist klein, jeder konnte sehen, wie die siebzehnhundert Juden am 18. August 1942 im Schulhof und auf dem Sportplatz zusammen- und dann von Polizisten eskortiert in den Wald getrieben wurden. Der Vater des Bauern führte seinen Sohn später an die Stelle, wo die Massengräber sich befinden.

Es ist ein warmer Sommertag Anfang August, als wir nach dem Schauplatz des Verbrechens suchen, der durch das Buch von Christopher Browning über das Reservepolizeibataillon 101 bekannter ist als andere Orte des vergessenen Holocaust.1 Eine Frau, die wir vor einem Supermarkt in Łomazy ansprechen, erklärt uns den Weg. Ein verwittertes Schild vor dem jüdischen Friedhof zeigt von der Landstraße zum »Ort der Ausrottung der Juden«. Über einen sandigen Feldweg geht es weiter, ein Bauer, der mit seinem Traktor auf dem Acker arbeitet, deutet auf den Waldrand. Sonnenlicht flirrt in den Birken. Lange Gräser, Farn und Himbeerranken begrünen den weich federnden Waldboden. Blätter rascheln, es duftet nach Holz und Harz.

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