Heft 892, September 2023

»Nach dem Sieg« – Kriegsalltag in der Westukraine

von Jochen Rack

Am Rathaus von Lwiw fordert ein Banner »Azovstal – Free Mariupol Defenders«, vor den Kellerfenstern stapeln sich Sandsäcke, die Buden der Straßenverkäufer auf dem Rathausplatz hat man abgebaut, um der Feuerwehr im Fall eines Raketenangriffs das Manövrieren zu erleichtern. Die vier schönen Brunnenskulpturen an den Ecken des Rynok – Neptun und Adonis, Diana und Amphitrite, von Hartmann Witwer Anfang des 19. Jahrhunderts geschaffen, als die Stadt Lemberg hieß und zu Österreich gehörte – verbergen sich hinter Schutzgerüsten. Plakate versprechen: »Wir werden das Original nach dem Sieg bewundern.«

Obwohl die Stadt auf den ersten Blick einen friedlichen Eindruck macht, die Cafés und Restaurants in der Altstadt gut besucht und die Straßen voller Passanten sind, ist der Krieg im Alltag gegenwärtig. An den Ausfallstraßen stehen noch die Panzersperren, die man zu Beginn der russischen Invasion errichtete, in Unterständen bewachen Soldaten Kreuzungen und Bahnunterführungen. Die Fenster aller Kirchen hat man mit Sperrholzplatten oder Blechen abgedeckt. Die mit feuerfestem Stoff umwickelten Heiligenfiguren am Fuß der Mariae-Himmelfahrt-Kathedrale, in der Gottesdienste in ukrainischer, polnischer, englischer Sprache und in Latein stattfinden, sehen aus wie von Christo persönlich verpackt. Vor dem verhüllten Neptunbrunnen würdigt eine Gedenktafel die Söhne der Stadt, die bei der »Verteidigung des Mutterlandes« gefallen sind. Jeden Tag sieht man ein anderes Gesicht.

Viktor Petrov war Absolvent der Fakultät für internationale Beziehungen, passionierter Sportler, Publizist, ehrenamtlich in der Betreuung von Krebskranken engagiert. Er starb im Rang eines Leutnants mit vierunddreißig Jahren am 25. Mai 2023. Yurii Bak, geboren 1969 in Lwiw, Oberst in der Nationalgarde, starb am 2. Juni 2023. Er »hinterlässt seine Mutter, seine Frau und seinen Sohn«. Am 6. Juni 2023, dem Tag der Sprengung des Kachowka-Staudamms, zeigt ein Foto den einunddreißigjährigen Mykola Majortschak, der an der Iwan-Franko-Universität Geschichte studiert, an der »Revolution der Würde« teilgenommen und zuletzt für ein lokalgeschichtliches Forschungsprojekt Augenzeugenberichte über die ukrainischen Befreiungsbewegungen gesammelt hatte. Er starb am 2.Juni 2023 an der Front bei Bachmut.

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