Heft 870, November 2021

Moskau

von Jochen Rack

Anfang Juni duftet ganz Moskau nach Flieder. Er blüht in den Hinterhöfen der Wohnpaläste aus der Stalinzeit, in den gepflegten Gärten der Adelshäuser und Klöster, den unzähligen Parks der Stadt, wo die Hauptstädter ihren Mittagsimbiss verzehren und ihre Hunde ausführen, im Alexandergarten vor dem Kreml und entlang der Burgmauern zur Moskwa hin, auch innerhalb der berühmten Burg, in der Polizisten aufpassen, dass Besucher nicht vom vorgeschriebenen Weg zu den Kathedralen und dem Arsenal abweichen und den Regierungsgebäuden zu nahe kommen. Auch meine Airbnb-Gastgeberin Larissa, eine dreißigjährige Kunsthistorikerin, die unter Schlaflosigkeit leidet, liebt den Flieder und hat immer einen Strauß zuhause. Die Zwei-Zimmer-Wohnung in der zentralen Twerskaja-Straße kaufte ihr Vater, der in der Sowjetunion als hoher Funktionär zu Geld gekommen war, einem ehemaligen KGB-Mann ab. Der Wohnblock, in den dreißiger Jahren erbaut, als die Twerskaja in Gorkistraße umbenannt und nach Stalins Generalplan grundlegend umgestaltet wurde, präsentiert sich im sozialistischen Palaststil mit Rundbogengalerien, pilastergeschmückten Toren und Erkern. Zu Fuß sind es nur zehn Minuten bis zum Roten Platz. Die Gegend muss bei der Nomenklatura beliebt gewesen sein.

Weil Larissa keine Miete zahlen muss, kann sie sich ihren schlechtbezahlten Job als Texterin bei einer Werbeagentur leisten, eigentlich aber träumt sie vom Wechsel in den Journalismus. In einer politischen Situation, in der immer mehr unabhängige Medien verboten oder Medienvertreter zu ausländischen Agenten erklärt werden, kann man das wohl nur, wenn man nicht unbedingt an kritischer Berichterstattung interessiert ist.

Der Twerskaja-Platz gegenüber mit dem Reiterdenkmal von Juri Dolgoruki, der als Gründer der Stadt gilt, wird gerade neu gestaltet. Ein gebeugt sitzender Lenin aus rotem Granit, der an Kreuzweh zu leiden scheint, blickt auf eine von Bauzäunen umgebene Wiese und zählt den Löwenzahn. In seinem Rücken erhebt sich das ehemalige Institut für Marxismus-Leninismus, über dessen Eingang die ehernen Köpfe von Marx, Engels und Lenin mit grimmigen Gesichtern auf die Bolschaja Dmitrowka schauen, wo sich die Flagship-Stores der internationalen Luxusmarken aneinanderreihen. Glitterdekoration hängt über der Straße. Es sieht aus, als ginge ein ununterbrochener Goldregen auf diejenigen nieder, die es sich leisten können, hier einzukaufen. Die Superreichen lassen sich in Maybachs, Porsches und Bentleys durch die Straßen chauffieren. Noch nie habe ich in einer Stadt so viele Luxuskarossen gesehen wie in Moskau.

Ein Springbrunnen plätschert, eine Oma geht mit ihren Enkelkindern spazieren, die Sonne glänzt auf der blauen Kuppel der Kirche Cosmas und Damian, die in sozialistischer Zeit geschlossen war und seit 1991 wieder für Gläubige geöffnet ist. Die Leute auf den Straßen wirken gutgelaunt und entspannt. Kein Zeichen davon, dass sich Russland nach der Annexion der Krim, dem Krieg gegen die Ukraine, den Sanktionen des Westens, der Vergiftung Nawalnys und der Covid-Pandemie in einer Krise befinden könnte.

Als Symbol der ökonomischen Prosperität erhebt sich am Ufer der Moskwa unweit des ehemaligen Hotels Ukraina, heute das Radisson Collection Hotel, der neue Business-District. Hier stehen gedrängt die üblichen blaugrau verspiegelten Quader, Prismen und Halbzylinder der Bürohochhäuser neben architektonisch ambitionierten Wolkenkratzern wie dem Evolution-Tower des Erdöl-Pipeline-Konzerns Transneft mit seiner doppelhelixförmig verdrehten Fassade, den Doppeltürmen Gorod Stoliz, die übereinander gestapelten Bauklötzen gleichen, und dem hässlichen, kupferfarbenen Mercury City Tower, der an eine kaputte Stufenrakete erinnert.

Die Manager aus den Chefetagen bevölkern nach Feierabend die teuren Restaurants der Innenstadt. Im noblen »Bolshoi« auf der Rückseite des berühmten Opernhauses unterhält ein Barpianist die Gäste. Elegante Kellner servieren als Gruß aus der Küche Sellerieschaumsüppchen. Frauen in hochhackigen Schuhen und Kleidern aus der Goldregenstraße stöckeln durch die Hallen. Die Speisekarte bietet die »Quintessenz der besten Traditionen der russischen Aristokratie«. Die Küche ist international, trotz westlicher Sanktionen gibt es Weine aus aller Welt und Weihenstephaner Bier. In dem vornehmen Viertel rings um die Patriarchenteiche, wo Bulgakows Meister und Margarita beginnt, finden sich stylische Blumen- und Dessousläden in renovierten historischen Gebäuden. Es gibt ein Bali-und-Thai-Spa und den Gucci-Shop mit angeschlossener Bar. Der Pavillon am Südende des Teichs mit seiner Restaurantterrasse wurde 1986 im klassizistischen Retrostil erbaut. Schwäne sorgen für malerisches Dekor. Ein Hauch von Pariser Chic liegt in der Luft. Auf der Promenade um den See flanieren vollbärtige Hipster im Anzug, eine schlanke junge Frau macht Yoga auf einem Spielplatz, während ein Arbeiter Blätter aus dem Wasser fischt und eine Frau im gelbgrünen Overall Mülleimer leert.

Wie überall in Moskau ist es im Quartier fast surreal sauber. Immerzu sind Spritzfahrzeuge unterwegs, um mit starkem Wasserstrahl den Asphalt zu reinigen. Straßenkehrer, die meisten von ihnen Gastarbeiter aus den mittelasiatischen Ländern, fegen die Gehwege. Gärtnertrupps sind in den Parks mit Rasenmähen, Baumschneiden und der Pflege von Blumenrabatten beschäftigt. Dreck und Unordnung passen nicht in eine autoritäre Gesellschaft. Penner oder Betrunkene sieht man fast nirgends. Die einzige Bettlerin, der ich in zwei Wochen begegne, ist eine Dame im Rentenalter, die am Majakowskaja-Platz einen Pappbecher in der Hand hält.

Moskau präsentiert sich als kultivierte moderne Weltstadt. Vom 2018 eröffneten Konzerthaus im Sarjadje-Park, dessen flach modelliertes Glasdach an einen Mantarochen erinnert, läuft man auf die freischwebend über die Moskwa gebaute Aussichtsbrücke, von der aus sich ein spektakulärer Blick auf die ziegelroten Kremlmauern und die goldene Kuppel der wiederaufgebauten Christ-Erlöser-Kathedrale öffnet, die, wie Larissa meint, zwar von den Gläubigen nicht geliebt wird, aber Putin als Kulisse dient, wenn er seine Verbundenheit mit der orthodoxen Kirche demonstrieren will. Die Rebellinnen von Pussy Riot hatten den richtigen Ort für ihr Punk-Gebet gewählt, als sie 2012 vor dem Altar skandierten: »Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin!«

Im Osten erhebt sich der Wohnturm an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße, eine der »sieben Schwestern« aus der Stalinzeit, zu Sowjetzeiten Adresse für Privilegierte wie den Dichter Jewgeni Jewtuschenko. Ausflugsboote ziehen über den Fluss, die Leute machen Selfies. Die kleine, mit Blumen und Fotos geschmückte Gedenkstelle für Boris Nemzow an der Großen Moskwa-Brücke, wo der Oppositionspolitiker im Februar 2015 ermordet wurde, findet bei den Touristen, die zum Kreml strömen, kaum Beachtung.

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