Heft 881, Oktober 2022

Tiflis

von Jochen Rack

Meine Tifliser Freundin Khatuna hat sich in den zwei Jahren der Corona-Pandemie die Augen verdorben. Weil sie wegen ausbleibender Touristen ihren Beruf als Reiseleiterin nicht mehr ausüben konnte, nahm sie einen schlechtbezahlten Job im Callcenter des Otto-Versands an, der ihr 500 Euro im Monat dafür bezahlt, dass sie die Anrufe deutscher Kunden entgegennimmt, die bei ihr einen Kühlschrank bestellen wollen oder sich über ausbleibende Lieferungen beschweren. Nach zwanzig Jahren in Hamburg spricht sie ein tadelloses Deutsch mit norddeutschem Akzent, was ihr gelegentlich einen Heiratsantrag von Anrufern aus den Hansestädten einbringt, aber nicht verhindern konnte, dass sie vom Starren auf den Bildschirm kurzsichtig wurde.

Meine Empörung darüber, dass skrupellose deutsche Unternehmen ihre Dienstleistungen in Billiglohnländer outsourcen, kontert Khatuna mit dem Hinweis, dass der Durchschnittslohn in Georgien 600 Lari beträgt, umgerechnet etwa 200 Euro. Sie verdient also immer noch mehr als die meisten ihrer Landsleute. Geld, das sie dringend braucht, um ihre Eltern zu unterstützen, die von je 180 Lari Rente nicht leben können. Ihr vierundsiebzigjähriger Vater musste sich kürzlich einer Krebsoperation unterziehen, die die Krankenkasse nur teilweise bezahlte, die nötigen Medikamente sind teuer. Zum Glück wohnen die Eltern mietfrei in einem Plattenbau der Vorstadt Didi Dighomi, wo sie nach dem Ende des Kommunismus eine privatisierte Wohnung erworben haben. Die Luft ist hier besser als in der von Autoabgasen verpesteten City. Rings um die Wohnblöcke gibt es verwilderte Grünflächen, weinumrankte Lauben, Blumen- und Gemüsegärten. Maulbeerbäume wachsen neben Rosen, in ehemaligen Garagen haben sich kleine Lebensmittel- und Gemüseläden eingenistet.

Viel hat sich seit meinem letzten Besuch vor vier Jahren nicht verändert. Die Gehwege sind noch immer Stolperfallen, die Straßen mit importierten Gebrauchtwagen zugeparkt. Eine Metro-Linie in die Vorstadt existiert nicht, an einen Weiterbau der beiden U-Bahn-Linien, die noch aus der Sowjetzeit stammen, scheint niemand zu denken. Während in den Trabantenstädten Wohnblöcke in die Höhe wachsen, werden im Zentrum vor allem Hotels gebaut. Wohnraum ist knapp, und seit dem Zuzug Zehntausender Russen, die nach Kriegsbeginn ihr Land verlassen haben, noch teurer geworden. Doch nicht nur der hohen Mietpreise wegen ist Khatuna wieder zu ihren Eltern gezogen, als sie in ihre Heimatstadt zurückkam. Wie viele Georgier schätzt sie das Leben in der Familie, Verwandtschaftsbeziehungen spielen im Alltag eine wichtige Rolle.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors