Heft 853, Juni 2020

Lwiw

von Jochen Rack

Dass die Ukraine im Krieg gegen Russland steht, kann man auch in der ostgalizischen Metropole Lwiw, weit ab von der Front, nicht vergessen. Im Taxi vom Flughafen in die Stadt zeigt mir der Fahrer, eigentlich ein ausgebildeter Jurist, der einen zusätzlichen Job braucht, um seine Familie zu ernähren, Fotos von seinem Kriegseinsatz. 2015 hat er mit Panzerfaust und Kalaschnikow gegen die Separatisten gekämpft. Eine kläglich bewaffnete Freiwilligenarmee verteidigte das Land, die inzwischen durch eine Berufsarmee ersetzt und mit jenen amerikanischen Waffen ausgerüstet ist, deren Lieferung Donald Trump als Druckmittel gegen Präsident Wolodymyr Selenskyj benutzte. Nicht selten sieht man in Lwiws Straßen Soldaten in Uniform, auch Kriegsversehrte. Beinamputierte in Rollstühlen betteln um Almosen, meinem Zimmerwirt wurde ein Ohr abgerissen, als rechte Hand trägt er eine Prothese.

Auf dem Prospekt Svobody, dem quirligen Boulevard vor der Oper, haben Kriegsveteranen zu Füßen der überdimensionalen Statue des Nationaldichters Taras Schewtschenko eine Ausstellung aufgebaut. Fotos zeigen erschöpfte, verdreckte, blutende Soldaten im Feld, bandagierte Schwerverletzte werden von ihren Kameraden auf Bahren aus der Schusslinie getragen, in einer Erdgrube liegt ein Toter. Ein graubärtiger Mann im Tarnfleckanzug, der als Freiwilliger zuerst auf dem Majdan, dann in Luhansk gekämpft hat, zeigt uns die Narbe einer Schussverletzung an seinem Kopf. Früher war er Trambahnfahrer, jetzt bezieht er eine Schwerbehindertenrente, die zum Leben nicht reicht.

»War der Kampf fürs Vaterland das Opfer wert?«

»Ja natürlich, der Feind muss besiegt werden.«

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