Heft 919, Dezember 2025

Der beste Moment

von Anke Stelling

Ich kann es nicht fassen. Wie soll ich darstellen, dass ein Jahr vergangen ist? Ohne dass ihr anfangt zu gähnen, ist doch so langweilig die ewige Fassungslosigkeit angesichts des Zeitvergehens, noch ermüdender als die angesichts des Zeitgeschehens, was guckst du, was laberst du, Digger. Tick-tack, bumm-bäng. Geh Turm, Hölderlin.

Ich werd’ euch vermissen. Wie soll ich darstellen, wie sehr ich euch vermissen werde? Ihr, die ihr auf meiner Seite seid, der letzten im Heft jeweils. Lasst uns zusammen die Letzten sein, die sich noch mit Fassungslosigkeit befassen! Überfließen zu allem Überfluss.

Ihr wisst, ich war schon leergeschrieben, bevor das hier überhaupt anfing, und jetzt ist’s vorbei, und ich war doch wieder wer. Eure Schlusskolumnistin.

Wie’s weitergeht, weiß keiner; meine Körpertherapeutin sagt, das sei schön. Dass ich mich tragen lassen soll von dem, was außerhalb meiner Willkür liegt, mich der Unwillkürlichkeit des Atmens überlassen, der Verdauung, dem Zerfall. Zeit und Mikroorganismen sind am Arbeiten, ich hab’ Pause, mach’ einfach gar nichts mehr.

Den Nachlass muss ich allerdings noch regeln. Sowohl meinen eigenen – aus Solidarität zu meinen Kindern – als auch den meines Vaters – der gern Die Internationale angestimmt, aber weniger gern seine Haufen sortiert hat. Wusstet ihr, dass Tod kein außerordentlicher Kündigungsgrund ist? Ein Mietvertrag geht automatisch auf die Erben über, und erben will geübt sein, vor allem, wenn es sich um Mietverträge für rotten Wohnraum in Schrottimmobilien handelt. Meine Schwester und ich machen uns also auf die Suche nach dem zur Wohnung gehörigen Kellerabteil, waten durch stehendes Wasser, wollen, wenn wir schon weiterzahlen, wenigstens die Kaution wiederhaben.

Der Hausmeister ist flüchtig.

Die Rattenfallen sind voll.

Die BSR ist nicht die BSR, sondern eine Bande von Trickbetrügern, die mit Fotos von orangefarbenen Müllautos und Männern in orangefarbener Arbeitskleidung auf Kundschaft an Land zieht, um sie abzuziehen; die BSR warnt, ich bin trotzdem drauf reingefallen. Jetzt ist die Wohnung noch immer nicht beräumt. Vielleicht liegt auch das außerhalb meiner Willkür.

Im Keller der Akademie der Künste am Pariser Platz sang gestern zum Tag der Einheit der Popchor Prenzlauer Berg mit Masha Qrella vom Wir. Was sind die Geschichten? Wer soll sie berichten? Wir. Ich muss immer weinen, wenn ein Chor singt, ich muss auch weinen, wenn Masha Qrella singt mit ihrer theoretisch zurückhaltenden, praktisch jedoch durchdringenden und zur lamettageschmückten Kellerdecke aufsteigenden Stimme, jetzt könnt ihr euch vorstellen, wie ich mich zusammenreißen musste, schließlich war ich noch dran mit vorlesen und über Ost-West diskutieren, sollte Haltung zeigen und musste sie deshalb bewahren. Weinende Künstlerinnen will keiner sehen, nicht mal Schauspielern wird so viel Durchlässigkeit durchgelassen, jedenfalls nicht, wenn sie auf Podien sitzen, da gilt der Affekt als Effekthascherei. Bei euch aber darf ich: die sein, die ich bin.

»Unsere Kolumnistin ist traurig und fassungslos nicht nur angesichts dessen, wie die Zeit vergeht, sondern auch wegen allem, was derzeit geschieht und nicht geschieht, Kyjiw, Gaza, der Tod ihres Vaters und das Untertauchen von dessen Hausmeister im Sumpf. Die elendige Geschäftemacherei selbst landeseigener Vermieter, das Birkensterben, Gletschersterben, Artensterben und dass bei Rewe keine Kellogg’s-Produkte mehr verkauft werden wegen Preiskampf, und ja, ihr ist bewusst, dass das Tatsachen sind, mit denen alle umgehen und fertigwerden müssen und sie’s vergleichsweise noch gut hat, doch das macht es ihr nicht leichter. Sie hat noch nie verstanden, inwiefern das größere Leid anderer das eigene Leid lindern soll, vielleicht bei schadenfrohen, empathielosen Personen, aber nicht bei ihr. Bei ihr kommt das Leid derer, denen es schlechter geht, immer noch obendrauf«, gebt ihr zu Protokoll, nachdem ihr ein Jahr lang meine Kolumne gelesen habt. Und wie sehr ihr mich vermissen werdet.

Ich fahr’ unterdessen zu Kaufland. Es liegt am östlichsten Ende von Prenzlauer Berg, wird auch von Lichtenbergern frequentiert und ist dementsprechend ein Schmelztiegel.

Was sich dort feststellen lässt: Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, auch nicht zwischen Lichten- und Prenzlauer Bergern, sondern zwischen Liebhabern von Groß- und denjenigen von Kleingebinden, Ernährerinnen von Groß- oder Kleinfamilien, den Leuten, die mit dem Daihatsu oder aber einem E-Rolli vorfahren, den Umsichtigen, die einen Warentrenner auch noch hinter ihren Einkauf legen, und den Verträumten, die nicht anfangen aufzuladen, obwohl sie längst könnten. Da gibt es die, die ihren vollgepackten Wagen noch ein Weilchen durchs Non-Food-Sortiment lenken, denn wer weiß, vielleicht gilt es heute zusätzlich zum Wochenendeinkauf noch einen zweiteiligen Thermoschlafanzug zu erwerben, während andere ohne Korb am Arm stracks zu den Cerealien durchstechen und nichts als eine Packung Cornflakes kaufen, fünfhundert Gramm für vierneunundvierzig. Ist eine Menge Geld, wird aber auch ewig vorhalten in meinem entvölkerten Haushalt; der Kleine ist inzwischen ebenfalls endgültig ausgereist. Keine eingetrockneten Müslischalen mehr, egal, wohin man schaut; ich gönne mir zum Trost noch einen Plastikbecher Ei in Aspik. Ihr erinnert euch, das ist da, wo ich herkomme, nicht mehr so leicht zu bekommen, da wird die Gruppe derjenigen, die Ei in Aspik als begrüßenswerten Teil ihrer Ernährung betrachten, einfach nicht mehr mitgedacht.

Darum ging’s gestern im Ost-West-Dialog dann auch noch: wie Konsumwünsche ganze Völker zu korrumpieren vermögen sowie die Grenze, die die Begehrenden von den Befriedigten trennt. Dass es wiederum traurig und fragwürdig sei, anderen ihre Wünsche und Begierden vorzuhalten; was ich allerdings schon seltsam finde, sind Autofahrer, die anfangen zu hupen, damit vor ihnen stehende Rechtsabbieger endlich mal losfahren, obwohl noch Fahrräder und Fußgänger mitten auf der Straße sind. Wozu wollen sie auffordern? Zu Mord?

Was ich mir wünsche: Weltfrieden. Genug zu essen für alle, es muss nicht Ei in Aspik sein. Einsicht in die Notwendigkeit von Verzicht. Dass meine Nachfolgerin an dieser Stelle die Formel findet für anhaltenden Trost, das neue Sprichwort, das mir beim besten Willen nicht einfallen wollte die letzten zweiundfünfzig Wochen.

Was ich mich frage: Was es mit dem Fragen genau auf sich hat.

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