Heft 874, März 2022

Formen des Sichtbaren

Philippe Descola und die Vielfalt der Kulturen von Oliver Schlaudt

Philippe Descola und die Vielfalt der Kulturen

Jan Vermeers Gemälde Der Astronom aus dem Jahr 1668 darf wohl in vielerlei Hinsicht – formal als auch inhaltlich – als emblematisch für die europäische Neuzeit gelten. Aber was zeigt dieses Bild eigentlich? Diese Frage kann man auf ganz unterschiedlichen Ebenen beantworten. Gegenstand der Darstellung ist ein Wissenschaftler der Zeit in seinem Studierzimmer. Auf dem Tisch vor ihm befinden sich ein zeitgenössischer Himmelsglobus, ein Astrolabium und ein aufgeschlagenes Buch, das als die zweite Auflage von Adriaan Metius’ Lehrbuch Institutiones Astronomicae & Geographicae von 1621 identifiziert wurde.1 Gilt die Frage der Komposition, so sind vor allem die beiden durch das seitlich einfallende Licht und den geometrischen Ort beiderseits der Bildmitte definierten optischen Zentren zu nennen, nämlich der Globus und das im zaghaften profil perdu noch gut erkennbare Gesicht des Wissenschaftlers, zwischen denen der Blick des Betrachters unaufhaltsam oszilliert.

Das interpretativ zu erschließende Thema des Bilds könnte die spezifisch moderne Form der Objektivierung der Welt in den zu dieser Zeit aufkommenden Naturwissenschaften sein. Metius’ Buch ist am Beginn des dritten Kapitels aufgeschlagen, in dem gelehrt wird, wie mit verschiedenen geometrischen Instrumenten die Position der Sterne nach Höhe und Breite bestimmt werden kann. Der Himmelsglobus inkarniert den Kosmos als wissenschaftliches Objekt. Aber das Bild vergisst darüber nicht das Subjekt, den Astronomen, zu dessen Gesicht mit seinem von Aufmerksamkeit und Neugierde geprägten Ausdruck der Blick immer wieder zurückkehrt. Wissenschaft ist nicht Objektivität tout court, sondern eine in einer spezifischen, nahezu paradoxen Weise von einem subjektiven Standpunkt her entworfene Objektivität. Die Objektivität der europäischen Neuzeit ist eine spezifische, die ihre besondere Perspektive leugnen mag, aber nicht abstreifen kann.

Man kann aber versuchen, noch weiter in die Bildsprache einzudringen und die Frage nach der Darstellung auf der Ebene ihrer Grammatik aufwerfen. Wie es für die niederländische Malerei der Zeit typische ist, sehen wir die profanen Gegenstände des Lebens mit aufrichtiger Hingabe in all den Details ihrer Oberfläche abgebildet. Sie sind echte Objekte, mit einer Textur, einer Schwere, einem Geruch, Spuren der Abnutzung und Geräuschen ihres Gebrauchs. Aber auch der Wissenschaftler ist ein echtes, singuläres Subjekt. Seine Darstellung ist unverkennbar psychologisierend, Haltung und Gesicht sind Ausdruck eines Inneren. Er ist kein bloßer Stellvertreter, vertritt keine Gattung, sondern steht für sich selbst, als Individuum.

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