Heft 850, März 2020

Eine Weltkarte der Ungleichheit

Thomas Pikettys neues Buch »Kapital und Ideologie« von Oliver Schlaudt

Thomas Pikettys neues Buch »Kapital und Ideologie«

»Die soziale Ungleichheit ist weder ein technologisches noch ein ökonomisches Phänomen, sondern ein politisches und ideologisches.« So lautet in einem Satz die Hauptthese von Thomas Pikettys neuem Buch Kapital und Ideologie.1 Stolze 1300 Seiten Text umfasst der Band, in dem der französische Starökonom sich anschickt, eine ökonomische, soziale und politische Geschichte inegalitärer Systeme von den Feudal- und Sklavenhaltergesellschaften bis zu den postkolonialen und »hyperkapitalistischen« Gesellschaften der Gegenwart zu schreiben. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Ideologie, denn, wie es bei Piketty immer wieder heißt, »jede Gesellschaft muss ihren Ungleichheiten einen Sinn geben«, damit diese gerechtfertigt und folgerichtig akzeptiert werden können.

Der erste Teil des Buchs bietet einen ökonometrisch fundierten Aufriss der europäischen Geschichte der Ungleichheit vom Mittelalter bis zu den modernen Gesellschaften. Im zweiten Teil geht Piketty auf Kolonial- und Sklavenhaltergesellschaften ein, wobei insbesondere auch die indische, die chinesische und die russische Geschichte Berücksichtigung finden. Der dritte Teil schließt diese Erzählung mit der Darstellung der dramatischen Selbstzerstörung der europäischen Eigentümergesellschaften in den beiden Weltkriegen, der sozialdemokratischen Nachkriegsprojekte, der kommunistischen und postkommunistischen Erfahrungen und schließlich des gegenwärtigen Hyperkapitalismus. Im vierten Teil ändert sich der Ton deutlich, die Geschichtsschreibung weicht einer politischen und soziologischen Gegenwartsanalyse.

Die identitäre Falle

Als entscheidende politische Herausforderung unserer Zeit wird die »identitäre Falle« identifiziert. Die Sozialdemokratie sei im Grunde Opfer ihres eigenen bildungspolitischen Erfolgs geworden, indem sie sich schleichend von einer Arbeiterpartei in eine Akademikerpartei verwandelt habe. Die ehemalige Klientel empfinde sich heute als Globalisierungsverlierer und drohe, zwischen einer »Kulturlinken« (gauche brahmane) und einer »Businessrechten« (droite marchande) politisch heimatlos geworden, sich auf die nationale Identität zurückzuziehen.

In der Regierung Macrons, de facto aber auch bei den britischen remainers, sieht Piketty eine Koalition dieser zwei Lager von Globalisierungsgewinnern, die sich selbst als progressiv betrachten und einen verächtlichen Blick auf die Abgehängten werfen. Die Rechte verstehe, an die aufkeimenden Ressentiments dieser Schicht zu appellieren, ohne dabei von einer neoliberalen Wirtschaftspolitik abrücken zu müssen. Die Sozialdemokratie hingegen stehe mit leeren Händen da, da sie es schon vor Jahrzehnten verpasst habe, ein postnationales Programm zu entwickeln, mit dem einzig noch einem postnationalen Kapitalismus beizukommen sei.

Piketty antwortet seinerseits auf diese politische Herausforderung mit dem Programm eines »partizipativen und dezentralen Sozialismus«. Dieser stützt sich im Wesentlichen auf die stark progressive Besteuerung von Einkommen, Besitz und Erbe, beinhaltet aber auch neuartige Elemente wie eine radikalisierte Mitbestimmung in Betrieben und eine Art »Grunderbe« von 120 000 Euro, das im Alter von fünfundzwanzig Jahren an jeden Bürger ausbezahlt werden soll.

Das neue Buch fällt insgesamt durch eine radikalere und explizitere politische Positionierung auf. Piketty formuliert nicht bloß abstrakt, sondern ergreift konkret Partei, stellt sich auf die Seite der »Abgehängten«, die er gegen den Klassenhass der Eliten und Globalisierungsgewinner in Schutz nimmt. Er solidarisiert sich der Sache nach mit den gilets jaunes und greift das neoliberale Europa an.

Das Kapital im 21. Jahrhundert

Damit der Leser entscheiden kann, ob er sich auf die gleichwohl beachtliche Lektüre einlassen soll, will er vermutlich wissen, um welche Art von Buch es sich bei Kapital und Ideologie überhaupt handelt. Spricht hier ein Ökonom, Historiker oder Soziologe, überhaupt noch ein Wissenschaftler, oder doch ein Politiker? Dieselbe Frage muss man auch beantworten, um zu wissen, an welchen Maßstäben das Werk zu messen ist. Aber genau diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Piketty selbst präsentiert sein Buch als eine Fortsetzung des Vorgängerwerks Das Kapital im 21. Jahrhundert (2013/2014). In diesem Buch – das Piketty ungeachtet des auch schon beeindruckenden Umfangs von 800 Seiten im Untertitel als Essay auswies – präsentierte der Autor die Früchte einer minutiösen, auf dem Studium von umfassendem Archivmaterial und Steuerstatistiken basierten historischen Rekonstruktion der Vermögensverteilung in Europa und Nordamerika über drei Jahrhunderte.

Das Hauptergebnis dieses Buchs war ein doppeltes: Piketty konnte zum einen zeigen, dass sich über das 19. Jahrhundert hinweg – entgegen der Versprechen der bürgerlichen Revolutionen – das Eigentum immer weiter konzentrierte. Dieser Trend wurde erst durch die »politischen Schocks« der Weltkriege beendet, bevor die Eigentumskonzentration ab den 1970er Jahren wieder einsetzte und inzwischen fast das Vorkriegsniveau erklommen hat. Zum anderen benannte Piketty einen konkreten ökonomischen Mechanismus, der hinter dieser Dynamik am Werk ist: Wenn das Wirtschaftswachstum hinter die Kapitalrendite zurückfällt, wächst das bestehende und durch Erbschaft weitergegebene Vermögen »von alleine« schneller als die Einkommen aus Arbeit, womit auch die Ungleichheit immer weiter zunimmt.

Piketty war mit Das Kapital im 21. Jahrhundert, das laut Verlag in vierzig Sprachen übersetzt rund 2,5 Millionen Mal verkauft wurde, ein echter Coup gelungen, und zwar gerade weil er sich zwischen alle Stühle setzte: Ein gestandener Schulökonom (mit den prestigeträchtigen Stationen LSE, MIT, Paris School of Economics) wies mit empirischen Daten akribisch nach, dass der Kapitalismus an seinem moralischen Versprechen, die Schranken der Ständegesellschaften zu überwinden und zu einer gerechteren Gesellschaft zu führen, gescheitert ist – und sogar scheitern musste.

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