Heft 902, Juli 2024

Schuld im Anthropozän

von Oliver Schlaudt

I

Das Anthropozän stellt unsere modernen, westlichen Gesellschaften vor eine wahrhaft »kosmologische« Herausforderung. Damit meine ich nicht einfach die schiere Größe der Aufgabe, unser Wirtschaften in und mit der Natur nach ganz anderen Prinzipien zu gestalten, sondern die Tatsache, dass wir dazu aufgerufen sind, die Grundbegriffe, in denen wir die Welt, uns selbst und unsere Stellung in der Welt verstehen, an die veränderten Verhältnisse anzupassen. Begriffe wir »Natur«, »Subjekt«, »Technik«, »Politik« sind ihnen in ihrer überkommenen Bedeutung nicht mehr ohne weiteres angemessen. Dass wir uns mit dieser Aufgabe sichtlich schwertun und weitgehend agieren, als lebten wir in normalen Zeiten, dürfte, so mein Verdacht, auch etwas mit der Verfasstheit unserer liberalen Gesellschaft zu tun haben, mit, wie man sagen könnte, unserem Konsens der Konsenslosigkeit, unserer Überzeugung, dass man auch dann als Gesellschaft miteinander auskommen kann – und vielleicht sogar besser und friedlicher –, wenn man kein gemeinsames Projekt verfolgt.

Sicher, aus einer vor- oder bloß antimodernen Haltung musste unsere Gesellschaft wohl schon immer als eine solche erscheinen, in deren Mitte eine Lücke klafft, als eine solche, die keinen Sinn für das Wesentliche hat: Ehre, Tradition, Ruhm, Schönheit, Größe, Tragik etc. Und im Rückblick aus dem Anthropozän mag es auch nicht mehr so klar sein, ob die liberale Haltung wirklich immer eine Stärke war. Kritische Köpfe wie Colin Crouch, David Graeber, Mariana Mazzucato oder Philip Mirowski legen mit ihren Zeitdiagnosen den Einwand nahe, dass der liberale Konsens schon längst nur mehr die besondere Form des falschen Bewusstseins über unsere Fremdbestimmung unter den realen Bedingungen des heutigen »postdemokratischen«, »neofeudalen« oder – um das hässliche Kind bei einem hässlichen Namen zu rufen – »oligarchischen« Kapitalismus darstellt. »Freiheit« ist ein schwieriges Wort in einer Gesellschaft, die sich gerade über den freien Mark fremdbestimmen lässt und die in Wahrheit gar nicht frei von einem kollektiven Projekt ist, sondern nur unfähig, es zu sehen und zu benennen.

Aber auch wenn man von diesen real-historischen Umständen abstrahiert und die Dinge idealiter betrachtet, stellt sich heute die Frage: Erweist sich der liberale Konsens der Konsenslosigkeit im Angesicht der multiplen und verschränkten Krisen, die die Zukunft für uns bereithält und von denen unsere Gegenwart uns schon einen Vorgeschmack bietet, nicht als gefährlicher Dämmerschlaf, als dysfunktional? Ist es nicht die Unfähigkeit zu einem gemeinsamen Projekt, die uns scheitern lassen wird? In seiner ätzenden Kritik der parlamentarischen Demokratie verwies Carl Schmitt einst mit Unschuldsmiene auf die »einfache, rechtswissenschaftliche Wahrheit, […] daß Normen nur für normale Situationen gelten«. Liberale Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie, gibt uns Schmitt hier am Beispiel der Rechtsphilosophie zu verstehen, untersucht die liberale Gesellschaft unter der Bedingung ihres bereits gelingenden Funktionierens. Sie setzt sich mithin – auch wenn dies auszusprechen nicht zum guten Ton gehört – dem Verdacht einer Schönwetterphilosophie aus. Wenn wir Carl Schmitt nicht in seinen hinlänglich bekannten Schlüssen folgen wollen, benötigen wir so etwas wie einen »aufgeklärten Liberalismus«, der seine Ideale nicht verrät, zugleich aber die eigenen blinden Flecke aufzuspüren vermag und insbesondere wieder die heute so dringend erforderliche Fähigkeit erwirbt, grundsätzliche Fragen zu stellen. Wie viel Konsens es in der Beantwortung dieser Fragen braucht, können wir ja einmal dahingestellt sein lassen.

II

Wir sollten mithin über die Grundbegriffe eines solchen aufgeklärten Liberalismus nachdenken. Nehmen wir zum Beispiel den Begriff der Schuld. Einen Zustand der Schuld verstehen wir gar nicht als Grundzustand, geschweige denn als Ideal, sondern als existentielle Ausnahmesituation, etwa wenn wir uns für ein begangenes Verbrechen zu verantworten haben. Ansonsten begegnet uns die Schuld höchstens noch im Plural, als Schulden bei der Bank, denen die provisorische Existenzweise aber ebenfalls von vornherein eingeschrieben ist: Wer Schulden macht, antizipiert schon den Tag, an dem er sie zurückbezahlt haben wird. Sonst aber spielt der Begriff der Schuld keine Rolle, wenn wir modernen Menschen über unser Leben nachdenken, uns im Kosmos verorten und unsere Subjektivität konstruieren. Aber vielleicht ist diese Abwesenheit ja höchst verdächtig, nämlich selbst schon ein solcher blinder Fleck?

Es ist ein Topos der Kulturgeschichte, dass Schuldbeziehungen in vormodernen Gesellschaften persönliche Beziehungen waren, aber im Umbruch zur Moderne diesen Charakter einbüßten. In der Feudalgesellschaft steht ein bestimmter Mensch aufgrund besonderer Umstände in der Schuld eines ganz bestimmten Anderen. Die Schuld bindet zwei Personen aneinander. Bei einem Immobilienkredit, den die Bank bereits aufgespalten, in diverse Finanzprodukte gebündelt und auf einem internationalen Wertpapiermarkt verkauft hat, wissen wir nicht einmal, bei wem wir verschuldet sind. Der locus classicus für diese »Entpersönlichung« oder »Versachlichung« des Schuldverhältnisses sind die Schriften von Max Weber und Werner Sombart. Aber, und dies ist mitnichten kulturwissenschaftliches Lehrbuchwissen, darin erschöpft sich der Umschlag in den modernen Schuldbegriff nicht.

Um der Sache direkt ansichtig zu werden, fragen wir einen Zeitzeugen. Im dritten Buch von François Rabelais’ Romanzyklus Gargantua und Pantagruel aus dem Jahr 1545 gerät Gargantuas Sohn Pantagruel mit seinem Freund Panurg just über die Frage in Streit, ob das Schuldenmachen eine gute oder schlechte Sache sei. Pantagruel erscheinen Schulden als ein Laster gleich den Lügen, und in der Tat liegt die Parallele auf der Hand: Auch in der Lüge ist die behauptete Wahrheit nur eine angemaßte, die wir in Wirklichkeit so wenig besitzen wie ein geborgtes Vermögen. Überraschend ist indes Panurgs Gegenrede. Die wechselseitige Verschuldung aller Dinge, so lautet der Kern seiner Ansicht, bildet nichts weniger als »die grosse Weltseel selbst«. Die Schuld hält den ganzen Kosmos im Großen wie im Kleinen erst zusammen und etabliert seine Ordnung. Sie ist es, die die Planeten auf ihren Bahnen hält, die den Fluss der Elemente regelt und somit den gesamten Lebensprozess in der Natur im Gange hält, die die Gesellschaften in einem friedlichen Miteinander beisammenhält und die schließlich auch die Glieder und Organe des Körpers in den gegenseitigen Dienst treten lässt, ohne den er nicht funktionieren würde. Die ganze Welt ist ein Gewebe wechselseitiger Schuldbeziehungen, die dem Mikro- wie dem Makrokosmos erst ihre Stabilität und Harmonie geben.

Brechen wir die kosmologische Vision auf ihren sozialen Gehalt herunter, wird klar, dass im vormodernen Europa, als dessen Vertreter Panurg hier im Moment des Umbruchs offenbar noch spricht, die Schuld nicht als eine Last betrachtet wurde. »In nichtmodernen Gesellschaften«, halten die Soziologen Michelle Dobré und Aldo Haesler fest, »bestehen Schulden nicht in zu begleichenden Forderungen, sondern in komplex ineinander verstrickten Verpflichtungen: jede(r) ist jedem in horizontalen, vertikalen, und diagonalen Bezügen, räumlich, zeitlich, sachlich und symbolisch verpflichtet.« Wir treffen hier auf Individuen, die sich relational verstehen und die reziproken Schuldverhältnisse nicht als äußerliche Bestimmung, sondern als Teil ihrer selbst betrachten. Sich aus aller Schuld zu befreien, muss absurd erscheinen, wenn die Sozialität selbst wesentlich durch Schuldbeziehungen konstituiert wird. Aller Schuld bar fiele der Einzelne aus der Gesellschaft heraus, würde zum Vogelfreien oder gar zum homo sacer. Man lebt also in den Schuldbeziehungen als dem eigentlichen Element des menschlichen Lebens, auch wenn dieses Leben selbstredend den Einzelnen ein höchst ungleiches Schicksal bereithält. Panurg ist als Sozialtheoretiker dabei wohlgemerkt nicht naiv. Er weiß genau, dass ein Gläubiger aus reinem Eigennutz um das Wohl seiner Schuldner besorgt ist. Aber dies reicht immerhin, um ein Band der friedvollen Gesellschaftlichkeit zu stiften.

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