Zur Soziologie des Verlusts
von Oliver SchlaudtI
Der Wunsch, in die Zukunft blicken zu können, muss uralt sein, denn er ist den Mythen vieler Kulturkreise gut bekannt, und sie belegen ihn oft mit einem hohen Preis, fordert er doch das Privileg der Götter auf Allwissenheit heraus. Während die Unkenntnis darüber, was das Schicksal einem jeden von uns bereithält, weiterhin zur conditio humana gehört, hat sich die Situation doch grundlegend geändert, wenn man nach den Rahmenbedingungen statistischer Kollektive fragt. Per Knopfdruck lässt sich mit den Computermodellen der Klimawissenschaften eine Prognose berechnen, wie es uns und unseren Nachkommen in einigen Jahrzehnten ergehen wird, und die Aussichten sind nicht gut. Die Menschheit ist im Begriff, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das Zeitfenster, in dem das Schlimmste noch abgewendet werden könnte, schließt sich. Unsere Gesellschaften scheinen allerdings in all ihren Entscheidungen konsequent den falschen Weg einzuschlagen, offenbar fest entschlossen, die Welt in einem sinnlosen Konsumrausch zugrunde gehen zu lassen.
Die Klimawissenschaften finden sich mithin weniger in der antiken Rolle des Tantalos wieder, der das Wissen der Götter versuchte, sondern vielmehr in der der Kassandra, die Apollo mit dem grausamen Fluch belegte, zwar in die Tiefen einer unschönen Zukunft blicken zu können, aber mit ihren Warnrufen kein Gehör zu finden. In dieser Qual blieb sie sich sodann selbst überlassen: »Alles ist der Freude offen, / Alle Herzen sind beglückt, / Und die alten Eltern hoffen, / Und die Schwester steht geschmückt. / Ich allein muß einsam trauern, / Denn mich flieht der süße Wahn, / Und geflügelt diesen Mauern / Seh’ ich das Verderben an.«
Forschende in den Klimawissenschaften müssen sich in diesen Zeilen Friedrich Schillers wohl wiederfinden. »It’s profoundly painful not to be able to change it«, ruft eine Spezialistin für den Amazonas-Regenwald nach den großen Bränden von 2015 aus: »Burnt forests tell the story of a past that is no more, and of an unfortunate future for most of the Amazon«. Zitiert wird sie in einem Artikel, den kürzlich das Wissenschaftsmagazin Nature eigens der Frage widmete, welche Strategien Forschende entwickeln, um mit der mentalen Erschöpfung umzugehen, die ihnen aus Verzweiflung an der Lage droht.1
Nur 6 Prozent der in die IPCC-Berichte involvierten Autoren glauben daran, dass das 1,5-Grad-Ziel noch erreichbar ist. Sie machen sich keine Illusionen, und diese Situation schlägt sich in entsprechenden Emotionen nieder. In der Literatur ist von »eco-anxiety« die Rede, die eine Form von Stress darstellt. Bekannt ist auch der als »solastalgia« bezeichnete Schmerz beim Verlust eines heimatlichen Ökosystems.2 In dem Nature-Artikel ist wie in Schillers Kassandra-Gedicht sogar von Trauer die Rede, »climate grief«, und es wird ein Good Grief Network vorgestellt, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen bei der Verarbeitung von Klimaangst und -trauer zu unterstützen.
Im Zusammenhang mit den Zukunftsprognosen der Klimawissenschaften bewirkt das Wort »Trauer« eine eigenartige Perspektivenumkehr. Die katastrophenumwölkte Zukunft wirkt wie ein dunkler Spiegel, der den prophetischen Blick der Klimamodelle in die entgegengesetzte Richtung zurückwirft und trauernd zurückblicken lässt auf unsere Gegenwart, die alsdann zur Vergangenheit geworden sein wird – und die einem darüber fast beginnt, unwirklich vorzukommen, wenn man, Schillers Kassandra gleich, in all ihrem Prunk immer auch schon die Ruine sieht, zu der zu verfallen sie sich ja selbst bestimmt. Auf diese seltsame Weise wird unserer Gesellschaft nicht nur die prophetische Vorausschau, sondern auch der schmerzhafte Rückblick zu einem existentiellen Anliegen.
Aber ist Trauer hier der richtige Begriff? Auf Sigmund Freud geht die Vorstellung einer Trauerarbeit zurück, in der eine allmähliche Loslösung von dem real bereits verlorenen, als Vorstellung aber noch zurückgehaltenen Menschen, Gegenstand oder Zustand geschieht, was nach einigem Sträuben, die wir eben als Trauer empfinden, gelingt. Am Werk sieht Freud (in Trauer und Melancholie) darin den bloßen Lebenswillen, der »das Ich dazu bewegt, auf das Objekt zu verzichten, indem es das Objekt für tot erklärt und dem Ich die Prämie des am Leben Bleibens bietet«. Nach Vollendung der Trauerarbeit wird das Ich »wieder frei und ungehemmt«.
Ob sich Klimatrauer nach diesem Modell verstehen lässt, ist schon deshalb fraglich, weil es dabei in vielen Fällen um Verluste geht, über deren Bedeutung wir überhaupt erst durch wissenschaftliche Forschung erfahren. Überdies passt die Zielvorgabe im Modell der Trauerarbeit nicht. Wir können die verlorene Natur nicht einfach »für tot erklären«, um wieder »frei und ungehemmt« zu werden. Auch in Alexander Eisenachs Anthropozän-Stück Anthropos, Tyrann (Ödipus) ist der Begriff der Trauer zentral, aber ihre funktionale Rolle wird im Off-Kommentar vom Band vorsichtig adjustiert: »Unsere Trauer erlaubt uns nicht, angesichts dessen zynisch zu werden, nicht melancholisch oder gar nostalgisch. WIR TRAGEN TRAUER. Die Trauer erlaubt uns, zu verstehen, dass jemand wirklich gestorben, dass etwas wirklich und unwiederbringlich verschwunden ist. Indem wir trauern, erkennen wir uns als mit dem Verlorenen verwandt. WIR TRAGEN TRAUER. Die Trauer lässt uns erwachsen werden. Sie lehrt uns, Verantwortung zu übernehmen. Wir trauern, um zu lernen, auf einem beschädigten Planeten zu leben, in den Ruinen vermeintlicher Größe.«
In dem Nature-Artikel setzt ein Klimawissenschaftler die Trauer der Angst geradezu entgegen: Angst trennt von der Welt, die Trauer, so wie er sie versteht, soll wieder mit ihr verbinden. Trauer um den Verlust also als Quelle für die Kraft, zu retten, was an intakter Umwelt, an kultureller und natürlicher Vielfalt noch nicht verloren ist. In Alexander Eisenachs Theaterstück kommt im Modus des Futur II auch das besondere Verhältnis zur Zeit zur Sprache, das sich in dem seltsamen Rückblick aus dem dunklen Spiegel der Zukunft abzeichnet: »Das hier wird eine Tragödie gewesen sein […] Diese Tragödie wird sich nicht von außen betrachtet haben lassen. Diese Tragödie wird bereits gespielt worden sein, wenn die Prozesse des Verstehens beginnen.«
Ohne hier weiter in die Tiefe zu gehen, wird klar, dass unsere besondere Gegenwart ein präzises Nachdenken über die Begriffe von Verlust und unsere Verhältnisse zu ihm – Trauer, Nostalgie, Melancholie – fordert, ein Nachdenken, das unsere existentiellen Verhältnisse zur Welt und den Modi der Zeit – Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit – berührt. Es knirscht vernehmlich im metaphysischen Gebälk der Moderne, und das sollte uns zu denken geben. Ein solches Nachdenken muss allerdings auch sich selbst gegenüber kritisch sein. Kann es sich bei Phänomenen wie eco anxiety und climate grief in westlichen, akademischen Kreisen nicht um so etwas wie »white fragility« (Robin DiAngelo) handeln, also jenes aus der privilegierten Position resultierende Unvermögen, mit Frustrationen und anderen negativen Erfahrungen umzugehen, oder, schlimmer noch, weil ideologisch verblendet, um eine Marotte einer selbstbezüglichen »PMC«, der »professional-managerial class« (Ehrenreich & Ehrenreich), die sich und ihre Befindlichkeit für den Nabel der Welt hält und der auch die ökologische Krise bloß ein billiger Anlass ist, in der Suche nach Distinktion die eigene Betroffenheit zur Schau zu stellen? Sicher, zwei bloß dahingestellte Hypothesen, die beide aber immerhin erklären würden, warum in der ökologischen Krise Wissen partout nicht in angemessenem Handeln mündet, warum wir so matt und tatenlos sind.
II
Die Fragen sind damit gestellt, Vorschläge für Antworten willkommen. Da kommt es gerade recht, dass Andreas Reckwitz, der bereits mit seiner Gesellschaft der Singularitäten im Genre der Gegenwartsdiagnose 2016 hohe Wellen geschlagen hat, nun unter dem Titel Verlust – Ein Grundproblem der Moderne eine »Soziologie des Verlusts« vorgelegt hat.3 Was sich hier Soziologie nennt, hat sich, wie bei diesem Autor üblich, weit von dem Anspruch entfernt, auf empirischer Grundlage kausale oder gesetzmäßige Erklärungen für soziale Phänomene zu liefern. Es geht eher um eine Gegenwartsdiagnose mit einem Fokus darauf, dass unser Umgang mit Verlust nichts (rein) Individuelles ist, sondern einigermaßen klaren epochen- und (in meinen, nicht seinen Worten) klassentypischen Mustern folgt, die sich mit der Zeit ändern. Man mag von der Soziologie anderes erwarten, aber für unsere Zwecke ist es willkommen. Auch verlangt es analytischen und hermeneutischen Scharfsinn, diese Muster herauszulesen, und darin besteht bei aller Kritik, die man sonst hegen mag – und die später noch zur Sprache kommen wird –, eine Stärke von Reckwitz.
Nun ist Verlust natürlich kein modernes Phänomen. Schon immer hat die Menschheit diese Erfahrung machen müssen, allein schon, weil der Tod ihr steter Begleiter ist. Entsprechend schuf sie sich einschlägige Narrative und Praktiken, um Verluste verarbeiten zu können – Tragik, Heroik, tröstliche Kosmologien. Die Situation verändert sich freilich grundlegend mit dem Anbruch der Moderne. In Europa wird, in den Worten von Lévi-Strauss, aus der »kalten« eine »heiße« Gesellschaft. Wo vorher relative Konstanz in den Rahmenbedingungen von Technik und Gesellschaftsstruktur herrschte, wird nun historischer Wandel sogar in der Spanne der eigenen Biografie zur Grunderfahrung – und damit auch der Verlust, der mit dem Wandel notwendig verknüpft ist.
Da aber die verlorenen Dinge (Menschen, kulturellen Ausdrucksformen, beruflichen Lebenswelten usw. usf.) durchaus identitätsstiftend wirken konnten, wird der Verlust oft als eine tiefe Erschütterung erfahren, die gesellschaftlich aufgefangen werden können muss. An dieser Stelle springt das gesellschaftliche Fortschrittsversprechen ein, also die tiefe Überzeugung, die Gegenwart sei besser als die (primitive, bornierte) Vergangenheit, und die Zukunft (mit all ihren technischen Möglichkeiten!) werde besser als die Gegenwart sein. Reckwitz spricht gar von einem in der Moderne wirksamen »Fortschrittsimperativ«, insofern die »zentralen institutionellen Ordnungen und Lebensformen der modernen Gesellschaft« von Fortschrittserwartungen angeleitet sind und sich entsprechend »in ihrer inneren Logik auf Fortschritt verpflichten«. Damit entpuppt sich der Fortschrittsglaube als faktische Grundlage unserer Gesellschaft, was nicht wenig ist.
Das Fortschrittsversprechen stellt genau genommen nicht nur eine Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Aufstieg zu Freiheit und Überfluss in Aussicht, sondern deutet den allseits erlebten Wandel überhaupt erst als Fortschritt. Und damit zeichnet sich schon eine fragile Konstellation ab: Das Fortschrittsnarrativ bringt einerseits unweigerlich Verluste hervor, einfach weil Wandel Verlust impliziert, bietet den Menschen aber – bar der vormodernen Narrative von Tragik oder postumer Glorie und intrinsisch auf Vermeidung negativer Erfahrungen durch stete Steigerung von Komfort und technischer Herrschaft bedacht – keine Möglichkeit, ihn sinnvoll zu verarbeiten (genau wie die Gesellschaft der Singularitäten den Individuen keine Ressourcen zur Verarbeitung von Misserfolgen und Erfahrungen des Scheiterns bereitstellt – in meiner Erinnerung eine der eindrücklichsten Beobachtungen in Reckwitz’ Buch von 2016, die hier offenbar eine Fortsetzung und Steigerung findet).
Um das Gesicht wahren zu können, müssen die Verluste relativiert oder verdrängt werden. Nehmen wir aus der detaillierten Analyse allein das drastischste Beispiel, den fortdauernden Skandal von Sterben und Tod, die eben darum konsequent in die Privatsphäre verbannt werden. Hinzu kommt eine doppelte Verlustbilanz der Moderne: Nicht nur ist auch jede Verbesserung mit einer Verlusterfahrung verbunden, insofern das Alte doch identitätsstiftend wirken konnte. Nein, der Wandel bringt auch immer mehr unzweifelhafte Verschlechterungen mit sich. Die Statistiken der UN zeigen, dass über die gesamte Neuzeit hinweg Kriege immer mehr Opfer fordern. Die Wahrscheinlichkeit eines »conflict-related death« war nie so hoch. Dazu kommen die ökologischen Externalitäten, die sich in der Umwelt akkumulierten und inzwischen auf unsere Körper zurückschlagen. Die Fortschritte der modernen Medizin dienen in immer größerem Maße dazu, die Nebenfolgen der technischen Moderne in Schach zu halten, woran sie aber zum Beispiel in der Krebsepidemie, von der man inzwischen spricht, zu versagen beginnt.4 Pest und Krieg sind für unsere Gegenwart viel charakteristischer als für die dunklen Jahrhunderte davor.
Ist es nicht verblüffend, wie schwer es uns fällt, dies zu denken, in welchem Maß uns ein internalisiertes Fortschrittsnarrativ ein vollkommen kontrafaktisches »Ja, aber … « auf die Zunge legt? Was die Ökonomin Marilyn Waring als einfache Wahrheit über das Bruttoinlandsprodukt aussprach, lässt sich als Motto der gesamten Moderne begreifen: »There is no debit side« – wir führen nicht Buch über unsere Verluste.5 Reckwitz spricht von »Zukunftsbias«, von Verdrängung von Verlusten als »inhärentem Bestandteil« der Moderne und einer »strukturellen Tendenz der Moderne zugunsten sozialen Vergessens«: Da das Alte, Verlorene ohnehin überholt war, ist es auch nicht erinnerungswürdig – oder doch nur als Teil einer Fortschrittsgeschichte hin zu Besserem.
Gegendiskurse, die das Fortschrittsnarrativ infrage stellen, haben freilich die gesamte Moderne begleitet, und dabei gilt mitnichten – um eine Kritik schon hier anzubringen – die unterkomplexe Gleichung von links und fortschrittsfreundlich einerseits und rechts und fortschrittsfeindlich andererseits, die Reckwitz erst in der von ihm so bezeichneten Spätmoderne aufbrechen sieht. Es stimmt natürlich, dass sich eine Linke als Bewegung derjenigen, die in der Vergangenheit zu den Verlierern zählten, von nichts anderem als der Zukunft eine Verbesserung erhoffen kann. Aber dies impliziert keinen unkritischen Fortschrittsenthusiasmus, der wohl eher für die technokratische Elite charakteristisch ist, die je nach historischem Kontext politisch sehr unterschiedlich positioniert sein kann.
Tatsächlich gab es aber auch immer eine humanistische Fortschrittsskepsis, die das vulnerable Individuum und seine Verlusterfahrungen gegen kollektive Modernisierungsfantasien in Schutz nahm. Stellvertretend für eine ganze Tradition, aber vielleicht auch als ihren Höhepunkt, verweise ich auf Walter Benjamins Figur des »Engels der Geschichte«. Er sieht in der Vergangenheit eine einzige Katastrophe – die fehlende »debit side« –, möchte verweilen, kitten, die Toten wecken, aber der Sturm des Fortschritts treibt ihn in die Zukunft, immer weiter fort vom Paradies. Diese erschütternde Vision ist radikal fortschrittsskeptisch, zugleich aber genuin modern, da sie den Sturm aus dem Paradies, der in anderen Zeiten nicht geblasen hat, durchaus kennt. Sie stellt nur infrage, ob er uns dem Guten näher bringt.
In der »Spätmoderne« – also der Ära des postfordistischen, neoliberalen und finanzialisierten Kapitalismus, von dem Reckwitz aber nicht sprechen möchte – verschieben, ja verschärfen sich die Verhältnisse noch einmal. Zum einen werden die Folgeschäden des Modernisierungsprozesses immer sichtbarer. Zum anderen bringt der Wandel des Zeitgeists, wie er schon in Gesellschaft der Singularitäten im Zentrum stand, eine neue Betroffenheit von diesen Verlusten hervor. Reckwitz identifiziert sechs »Verlustschübe«, die der Gesellschaft zusetzen: »Im Hexagon der spätmodernen Verlustschübe treffen Effekte der Postindustrialisierung und Entdemokratisierung auf Erwartungssteigerung sowie emotionale Sensibilisierung, den Klimawandel, die kritische Geschichtskultur und eine alternde Gesellschaft.«
Der Fortschrittsimperativ gibt sich nicht kampflos geschlagen, sondern kann sich vorerst in eine Subjektivierung retten, insofern der Einzelne noch immer hofft, dass es für ihn – gegen den Trend – besser werden mag. Gleichwohl, als kollektives Großnarrativ ist der Fortschrittsglaube angeschlagen und macht einer neuen Zukunftsskepsis Platz, in der eine »gesellschaftliche Selbstverständigung über reduzierte Zukünfte« stattfindet. Ja, die Erfahrung von Verlust kann dabei sogar ihrerseits zu einem neuen Identitätsanker werden, negativ im Populismus, der sich aus Verlustängsten nährt, aber vielleicht auch positiv in liberal-progressiven Bewegungen wie degrowth oder restorative justice. Wir dürfen uns dies indes nicht als harmlosen Prozess vorstellen. Mit der Überzeugungskraft des Fortschrittsimperativs droht, wie Reckwitz selbst notiert, nicht weniger als die Legitimität der liberalen Gesellschaften zu erodieren.
Dieses Panorama ist es, was ich aus der Lektüre zurückbehalten habe. Mit der Rede von der Legitimität der Neuzeit an ihrem Ende hat sich Reckwitz eigentlich sogar eine Steilvorlage für ein furioses Finale geschaffen, denn bei jedem, der je nur ein paar Seiten von Max Weber gelesen hat, wird das Wort Legitimität ja wie ein Blitz einschlagen. Allein, Reckwitz lässt, nachdem er kurz und pflichtgemäß auf die Gefahr des Rechtspopulismus hinweist, sein Buch lieber in drei Szenarien auslaufen, wonach entweder alles von alleine besser wird, oder alles dem Ende zugeht, oder die Moderne sich irgendwie – gereifter – in die Zukunft retten kann. Nun, das ist nicht nur beinahe tautologisch, sondern lasch. Auch das Panorama, wie ich es hier rekonstruiert habe, findet sich im Buch so nicht. Halb muss man es sich zusammensuchen, halb hinzudenken (auch der Engel der Geschichte darf nicht auftreten). Vor allem aber schärft die Lektüre nicht zufriedenstellend unseren kritischen Blick auf Verlustdiskurse. Wir lernen sie besser kennen, erhalten aber keinen Hinweis, inwiefern wir ihnen auch trauen dürfen. Und das alles, so scheint es mir, hat seine Gründe, womit wir beim schwierigeren Teil wären, nämlich der Kritik am Werk.
III
Kommen wir noch einmal darauf zurück, welches Ziel sich Reckwitz selbst setzt. Nach eigener Aussage geht es ihm darum, in einer »kritische[n] Analytik der modernen Verhältnisse […] die in sich widersprüchliche Verlustdynamik« aufzudecken. Einerseits beweist er darin viel Fingerspitzengefühl – wie schon in Gesellschaft der Singularitäten bei der Analyse der in sich widersprüchlichen »performativen Selbstverwirklichung« –, und so darf er am Ende des Buchs zu Recht resümieren: »Der Widerspruch zwischen Fortschrittsversprechen und Verlusterfahrungen ist für die Moderne ein potenzieller Sprengsatz.«
Andererseits sind der hier anklingenden Kritik im Buch de facto enge Grenzen gesetzt. Immer, wenn sich eine konkrete Möglichkeit bietet, dem Liberalismus seine Aporien um die Ohren zu hauen, wird Reckwitz seltsam zurückhaltend. So etwa, wenn er subtil und zu Recht herausarbeitet, dass die Moderne ihre Verluste, um sie verarbeiten zu können, eigentlich als »Opfer« begreifen muss, die dem Fortschritt dargebracht werden, damit aber ausgerechnet einen vormodernen, illiberalen Diskurs bemühen muss, denn Fortschritt bedeutet ja gerade, dass man nicht mehr wie in dunkler Vorzeit Opfer bringt, geschweige denn Menschen dem übergeordneten Ziel opfert. Statt nun aber unsere Gesellschaft mit diesem Widerspruch schonungslos zu konfrontieren, zieht Reckwitz gedanklich die Reißleine und erklärt ohne weitere Erläuterung und fast so, als wäre er über seine Erkenntnis selbst erschrocken, die Idee des Opfers würde eben »modernisiert«.
Was geht hier vor? Eigentlich ist es ganz einfach, und Reckwitz selbst spricht es aus. Seine »kritische Analyse« grenzt sich vor allem gegen eines ab, nämlich normative Kulturkritik. Er wolle weder Verluste als solche anprangern noch Verlusterfahrungen bewerten. Wir erkennen hierin leicht das paternalistische Schreckgespenst, das sich der Liberalismus einzig unter kritischer Theorie vorstellen kann. Fast überflüssig, dies richtigzustellen: Als ob nicht gerade die kritische Theorie den Anspruch erhebt, auf der Seite des vulnerablen Individuums zu stehen, die Zumutungen, denen es durch die Moderne ausgesetzt ist, zu artikulieren, und das falsche Glück und die falsche Freiheit zu kritisieren, nicht weil sie besser wüsste, worin das wahre Glück und die wahre Freiheit bestünden, sondern um uns allen die Freiheit zu geben, dies gemeinsam herauszufinden, damit wir auch gemeinsam für sie kämpfen können.
Schon in Gesellschaft der Singularitäten hatte Reckwitz diese Weichenstellung vorgenommen, und man musste sie nicht mögen, in Soziologie des Verlusts wird sie nun aber fast zu einem logischen Problem. Reckwitz betont, dass er mit dem neuen Buch – nachdem er sich die oft geäußerte Kritik an Gesellschaft der Singularitäten, es würde sich allzu sehr auf ein bestimmtes Milieu fokussieren, offenbar zu Herzen genommen hat – nun den Blick den Verlierern des Modernisierungsprozesses zuwenden wird. Verlust, Vulnerabilität, Nostalgie, das in offiziellen Narrativen ausgesparte und damit verdoppelte Leid ist ja eigentlich das Lebenselixier der kritischen Theorie.
Das Problem besteht also nicht einfach darin, dass sich die »normative Enthaltsamkeit« (Hartmut Rosa über Reckwitz) nicht durchhalten lässt und natürlich überall politische Meinung durchschimmert. Nein, es besteht vielmehr darin, dass die Eigenlogik des Projekts eigentlich von ganz alleine hin zu einer Art kritischer Theorie strebt – es sei denn, man verhindert dies aktiv, und genau das scheint mir in Verlust der Fall zu sein.
Man spürt bei der Lektüre, dass Reckwitz immer wieder die Notbremse ziehen muss. An solchen Stellen fallen Sätze wie: Es »würde die soziale Welt überfordern«, wenn sie »unfähig [wäre], zu vergessen«; »Man sollte sich der Defizite der Modernisierung bewusst sein, aber gleichwohl ihre Leistungen anerkennen«; »Das Mittelalter war eben nicht so pittoresk, wie es im Blick auf das Mittelalter erscheint«. Möchte Reckwitz etwa diese biederen Banalitäten Walter Benjamin entgegenhalten? Wird sein Engel der Geschichte, gebannt von den Trümmern der Vergangenheit, auch nur mit der Wimper zucken? Ich möchte nicht polemisch werden, aber der Punkt sollte klar sein: Solche Aussagen figurieren im Text nicht als Thesen, als Ergebnisse des kritischen Nachdenkens, sondern vielmehr als Verbotsschilder für ein ebensolches Denken. Sie ersticken es mit ihrem sauerstofffreien gesunden Menschenverstand.
Man kann das so offen aussprechen, ohne dem Autor zu nahe zu treten, weil man bei der Lektüre spürt, dass der Text sich zu dieser Haltung viel mehr zwingen muss, als dass er ihn verkörpert. Gleichwohl hat die Grundhaltung, die Reckwitz seinem Buch verschreibt, erhebliche Konsequenzen. Um Kulturkritik zu vermeiden, hält er sich streng an subjektive Verlusterfahrungen und die ihnen entsprechenden Diskurse. Damit fehlt als erste Konsequenz die objektive, materielle Seite seiner Kulturgeschichte, nämlich die Verluste selbst, die in den Verlusterfahrungen reflektiert werden. Reckwitz fällt es unglaublich schwer, die objektive Verlustdynamik zu beschreiben, etwa die Akkumulation ökologischer Externalitäten oder die einfache Tatsache, dass die Moderne Verlusterfahrungen potenziert, nicht nur weil sie für Verluste sensibel macht, sondern weil sie auch die Verluste selbst immer weiter anwachsen lässt. Das Buch zeugt durchgängig von Weltvergessenheit, und aus diesem Grund findet sich in ihm auch nicht das oben von mir rekonstruierte Panorama. Ulrich Beck, um ein Gegenmodell zu nennen, hat dieser Seite in seinem Werk einen prominenten Ort gegeben und aus den Befunden kritische Schlussfolgerungen über Technik, Wissenschaft und gesellschaftliche Organisation abgeleitet. Vergleichbares hat Verlust nicht zu bieten.
Eine äußerste Zuspitzung erfährt die Fokussierung auf Verlusterfahrungen im Problem menschlicher Verluste. In dieser Frage hat Zygmunt Bauman in Wasted Lives (2003) Pionierarbeit geleistet, die Reckwitz aber nicht rezipiert. Tote machen keine Erfahrungen, weshalb sie bei Reckwitz (anders als in der Vision vom Engel der Geschichte) selbst nicht vorkommen, sondern immer nur vermittelst der Verlusterfahrungen der Lebenden (»restorative justice«, »kritisches Geschichtsbewusstsein« etc.). Und diese Beobachtung eines strukturellen Bias führt uns zum Kern des Problems.
Verlust wollte sich den Modernisierungsverlierern zuwenden, die im Vorgängerband zu kurz kamen. Aber dieses Versprechen wird nicht eingelöst. Die Opfer und Verlierer treten hier nicht in ihrem eigenen Namen auf, sondern nur im Spiegel der Erfahrungen des Subjekts, und zwar eines ganz bestimmten, ungenannten Subjekts, das durch das Buch schwebt. Es ist das Subjekt, das im Zentrum des »Hexagons der Verlustschübe« steht, das also besorgt eine »Entdemokratisierung« wahrnimmt (statt der Politik einfach schon längst den Rücken gekehrt zu haben), das eine »Erwartungssteigerung« erfährt (statt sich mit der Misere abgefunden zu haben), das »emotional sensibilisiert« (statt müde und erschöpft) ist, das sich um den Klimawandel sorgt (also um das Ende der Welt, nicht das Ende des Monats …), ja das sogar an einer »kritischen Geschichtskultur« teilhat (bitte was?) – mit anderen Worten: Es ist das Subjekt der Gesellschaft der Singularitäten, dem Reckwitz eigentlich entkommen wollte.
An dieser Stelle geht es nicht bloß um eine Verengung des Fokus, wie Reckwitz die Kritik an Gesellschaft der Singularitäten verstanden zu haben scheint (ohne freilich diesem Problem entkommen zu können). Es unterbleibt vielmehr auch der epistemische Bruch, auf den Bourdieu nicht müde wurde, als Bedingung einer veritabel soziologischen Analyse hinzuweisen. »Vieles deutet darauf hin«, notierte Cornelia Koppetsch schon für Gesellschaft der Singularitäten, »dass der Autor die Selbstbeschreibung der spätmodernen Gesellschaft mit ihren Strukturen verwechselt«6 – also im besten Fall nichts erklärt, im schlimmsten Fall nolens volens zum Komplizen eines ideologischen Diskurses wird.
Das Defizit, um es konkret zu machen, wird am »Hexagon der Verlustschübe« unmittelbar deutlich. Wir haben es mit einem Potpourri heterogener Dinge zu tun, die in ihrer historischen Koinzidenz und ideologischen Konstellation unverstanden bleiben. Sie mögen auf die (oder eher ganz bestimmte) spätmodernen Subjekte einprasseln. Aber Reckwitz vollzieht dieses Erlebnis nur von innen nach, analysiert feinsinnig die oft paradoxen Konsequenzen, nimmt es aber nie von außen als erklärungsbedürftiges Phänomen wahr.
Wie kann es zum Beispiel sein, dass die »demokratische Regression« mit dem Aufkommen einer »kritischen Geschichtskultur« und der »Verbreitung des Ideals der Menschenrechte« historisch koinzidiert? Diese Dinge passen prima facie nicht zusammen, weshalb man mit den klassischen Werkzeugen der Ideologiekritik in die Tiefe gehen muss. Wie ist der Diskurs konstituiert, und wie das Subjekt dieses Diskurses, so dass diese Dinge sich schließlich doch als miteinander verbunden erweisen?
Begriffe wie »progressiver« (Nancy Fraser) oder »linker« Neoliberalismus (Walter Benn Michaels), »hard modernity« (Aldo Haesler), »PMC« (Ehrenreich & Ehrenreich) liegen hier auf der Hand, aber das Buch verweigert diese Analyseebene vehement – also die Ebene einer Soziologie, die noch nicht ihren endgültigen Frieden mit unserer Welt gemacht hat, sondern ihr noch misstraut. Und was ich vom »Hexagon« sagte, gilt leider für das ganze Buch. Es tritt gleichsam mit einem enzyklopädischen Anspruch auf, möchte alles erwähnen, was irgend mit Verlust zu tun haben könnte, und ächzt schlussendlich unter der Last einer langen Liste, die von der Kulinarik der Diaspora über Kipppunkte im Erdsystem und dem Simplify your life-Trend bis zum Holocaust reicht, sich aber eben in einer bloßen Nennung ohne Analyse erschöpft, ohne dass diese Dinge in einem neuen Licht erschienen, ohne dass eine verborgene Einheit greifbar würde.
IV
Nun, der Engel der Geschichte blickt noch immer unverwandt in die Vergangenheit, während der Sturm ihn in die Zukunft treibt. Wollte Benjamin in dieser Vision überhaupt eine gerechte Bilanz der Moderne ziehen? Die Vision ist radikal einseitig, und darin sehe ich keine Schwäche, sondern eine Aufforderung, vor der anstehenden Bilanz erst einmal Tabula rasa zu machen. Es geht eben nicht um eine offizielle Erinnerungskultur, die anerkennt, dass es »auch« Opfer gab (und damit riskiert, doch wieder nur Herrschaftskultur zu sein).
Die Trauer, so lasen wir bei Eisenach, »erlaubt uns, zu verstehen, dass jemand wirklich gestorben, dass etwas wirklich und unwiederbringlich verschwunden ist«. Wie die Klimawissenschaft sich in der Kunst der Vorausschau übt, so müssen wir die Kunst der trauernden Rückschau erlernen. In einem hat Reckwitz ja Recht: Der Verlust ist ein Grundproblem der Moderne.
Aber gerade deswegen wird man ihm nicht gerecht, indem man die Struktur der Verlusterfahrungen und -diskurse in einem bestimmten Milieu analysiert. Was Verlust liefert, ist genau dies, eine feine Analyse der Binnenlogik von Wahrnehmungen und Diskursen innerhalb einer akademischen Mittelklasse, die von sich glaubt, kulturell und moralisch den Ton anzugeben. Dies leistet Reckwitz auch durchaus mit einem alles andere als naiv-liberalen Blick für die Plastizität der Subjekte, die strukturellen Zwänge, denen sie ausgesetzt sind, und die Paradoxien, die sich aus diesen Zwängen ergeben können.
Solche Analysen sind wertvoll. Man kennt sie aus der erzählenden Literatur, die ja – wie zum Beispiel bei der Erkundung des Angestelltenmilieus bei Autoren wie Robert Walser, Kafka, Italo Svevo und Fernando Pessoa – bisweilen der Soziologie zuvorkommt und dies sogar noch mit ästhetischem Wert zu verbinden weiß. Hier liegt nun etwas Ähnliches vor, nur eben in der zeitgenössischen Prosa der Kulturwissenschaften mit all ihren Schrullen und Eigenheiten, was aber nicht davon abhalten sollte, dasjenige, was daran richtig ist, in eine veritable Theorie des Verlusts zu integrieren, wie sie für unsere Gegenwart wirklich von Bedeutung wäre.
Was wir nun benötigen, ist eine echte Bilanz der Moderne, und das heißt zuallererst die fehlende debit side, ein Inventar unserer realen Verluste. Dazu müssen wir wissen, was ein Verlust ist, was natürlich schwierig ist, weil wir es mit einem normativen, wertenden Begriff zu tun haben. Dies herauszufinden verlangt auch eine skeptische, ideologiekritische Analyse davon, wie Verluste politisch konstruiert, gefiltert, bisweilen instrumentalisiert werden. Ein trauernder Blick muss schließlich nicht naiv sein.
Und ist solcherart die debit side nachgetragen, werden wir es dann wagen, die Bilanz zu ziehen, Gewinn und Verlust einander gegenüberzustellen und zu fragen: Hat es sich gelohnt? War es das wert?
Anmerkungen
Meghie Rodrigues, »Who will protect us from seeing the world’s largest rainforest burn?« The mental exhaustion faced by climate scientists. In: Nature, Nr. 632 vom 12. August 2024.
Glenn Albrecht u.a., Solastalgia: the distress caused by environmental change. In: Australasian Psychiatry, Nr. 15/1, 2007.
Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2024.
Roberto Cazzolla Gatti, Why We Will Continue to Lose Our Battle with Cancers If We Do Not Stop Their Triggers from Environmental Pollution. In: International Journal of Environmental Research and Public Health, Nr. 18/11, 2021.
Terre Nash, Who’s counting? Marilyn Waring on Sex, Lies and Global Economics. National Film Board of Canada 1995 (www.nfb.ca/film/whos_counting/).
Cornelia Koppetsch, Die Gesellschaft der Singularitäten 2. Eine kultursoziologische Kartierung der Gegenwart – doch stimmt sie auch? In: Soziopolis vom 10. November 2017 (www.soziopolis.de/die-gesellschaft-der-singularitaeten-2/buchforum-reckwitz-buchforum.html).
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