Heft 870, November 2021

Müll-Philosophie

Des Teufels Staub und der Engel Anteil von Oliver Schlaudt

Des Teufels Staub und der Engel Anteil

Philosophie erforscht traditionell nicht den Müll, sondern Ideen. Nachdem mit dem Gerechten, dem Schönen und dem Guten schon die Top drei genannt sind, hakt Parmenides (Christoph Paret hat im Oktoberheft daran erinnert) bei Sokrates nach, ob es nicht auch für sich bestehende Ideen von »Haar, Kot, Schmutz« gebe, »und was sonst recht verachtet und geringfügig ist«. Die Antwort fällt eindeutig aus: »Keineswegs, habe Sokrates geantwortet«, und drehte diesen Dingen »schnell wieder den Rücken, aus Furcht, hier in einen wahren Abgrund der Albernheit zu versinken und darin umzukommen«.1

Da haben wir noch einmal Glück gehabt und können die Handschuhe wieder abstreifen: Müll kann gar nicht zum Gegenstand von Philosophie werden, weil sich die Philosophie nicht für die Dinge selbst, sondern ihre Form interessiert. Müll, Kot und Schmutz aber treiben einer stinkenden Masse von undefinierter Form, Konsistenz und Farbe zu. Gleichwohl führt ein kurzer Weg von den Idealen zum Abfall. Was dem Leben eigentlich Sinn verleiht, was wirklich wertvoll ist, wird oft in die Frage übersetzt, was wir »der Nachwelt hinterlassen«. Und schon sind wir beim Müll: In der Atmosphäre reichert sich das Kohlendioxid an, in der gesamten Biosphäre von den Ozeanen bis zu den Alpen die Plastikpartikel, Hunderte Atomkraftwerke spucken kontinuierlich hochtoxischen radioaktiven Müll aus, ohne dass nur ein einziges Endlager auf der Welt existierte, und sogar im Weltall wird die Erde von einer schwebenden Müllhalde aus Raketen- und Satellitentrümmern eingefasst. Nicht dass wir ausschließlich Müll hinterließen. Aber wir hinterlassen ihn doch so, dass er sich längst nicht mehr verstecken oder auch nur kleinreden ließe, als bloße Nebenfolge, die im Prinzip auch hätte vermieden werden können. Der Müll ist unser Schatten, den wir nicht abstreifen können, und er ist nicht mehr außerhalb, sondern mittendrin – in der Natur, der Siedlung, der Nahrung, dem Körper, dem Fleisch. Für Jahrtausende oder gar Jahrmillionen wird er nun in der Biosphäre zirkulieren.

Müll-Studien sind keine neue Erfindung. Wenn wir von der rein technischen Literatur zu Müllverwertung und Müll-Management absehen und ebenso von einer rein positivistischen Geschichte des Mülls, können wir leicht einige Koryphäen der Müll-Theorie benennen. William L. Rathje gilt mit seinem Garbage Project von 1974 als Begründer der Garbologie oder Müll-Archäologie.2 Michael Thompson leistete 1979 mit seiner Rubbish Theory dasselbe für die Kulturanthropologie des Mülls. Natürlich gibt es auch eine Kulturtheorie des Mülls mit sozial- oder gar zivilisationskritischen Anklängen: Vance Packards The Waste Makers von 1960, Volker Grassmuck und Christian Unverzagt mit Das Müll-System von 1991, neuerdings Jean-Luc Coudray mit seinem Guide philosophique des déchets von 2018.

Dezidiert philosophische Literatur zum Thema findet man etwa seit den 1990er Jahren. François Dagognet, der Metaphysiker, Alchemist und Kosmologe des Mülls, lud 1997 in Du détritus, des déchets, de l’abject dazu ein, die scala naturae in unbekannte Tiefen hinabzusteigen: vom Defekten oder Zerbrochenen über die »Abfälle« (Reste, Schnipsel, Späne, Schutt) zur Schlacke und fort über den Müll zu den Exkrementen. Ein Jahr später entwarf Cyrille Harpet, der Historiograf, Kartograf und Systematiker des Mülls, mit Du déchet ein atemberaubendes Triptychon von Körper, Stadt und Industrie. 2007 erschien das Buch Smuts des schwedischen Philosophen Olli Lagerspetz (2018 auf Englisch: A philosophy of dirt). Erwähnung verdient auch Ken Dunn, sozusagen der Diogenes der Müll-Philosophie, von dem zwar keine Schriften, aber Taten überliefert sind: Ein Video des von ihm gegründeten Resource Center, Chicagos erster Recycling-Firma, heute ein Zentrum für Umwelterziehung und urban farming, zeigt den Philosophen, wie er souverän einen schweren Müll-Truck durch die Straßen der Stadt steuert.3

Das Nachdenken über den Müll, obgleich schon lange präsent, war lange eine eher randständige Sache. Nun, da nach mehreren verlorenen Jahrzehnten der Weltuntergang konkrete Züge anzunehmen beginnt, ist vielleicht der Zeitpunkt für einen neuen Versuch gekommen.

Der Ursprung des Mülls

Die Müll-Frage kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen gestellt werden. Der Kulturanthropologe Michael Thompson interessiert sich in Rubbish Theory für die Regeln, nach denen wir Dingen – Kunsthandwerk, Autos, Immobilien etc. – sozusagen per Geschmacksurteil den Wert absprechen: Müll als das, was wir für Müll halten. Man kann eine Stufe tiefer steigen und nach einer objektiveren, nämlich historischen, Bestimmtheit des Mülls fragen: was unter gegebenen technologischen Bedingungen nicht mehr verwertbar ist. Atommüll gilt aktuell als Müll, aber manche Wissenschaftler hoffen, ihn morgen als Rohstoff wiederverwerten zu können. Und wir können noch eine Stufe weiter schreiten und aus kosmologischer Perspektive fragen, ob es auch in so etwas wie einem absoluten Sinn Müll gibt.

Den Ausgangspunkt bildet dabei das Problem des Lebens: Wie können solch fragile Geschöpfe wie Lebewesen aus organischer Materie überhaupt in einer schroffen, feindlichen Umwelt existieren? Evolutionär liegt der Schlüssel zur Lösung – oder zumindest ein erster wesentlicher Teil davon – im Problem selbst: Empfindlichkeit bedeutet nicht nur Fragilität, sondern auch Reaktionsfähigkeit. Organismen reagieren – im Gegensatz zu toter Materie – auf äußere Einflüsse »adäquat« im Sinn einer Selbststabilisierung. Hitze stößt im Organismus Prozesse an, die ihn kühlen; Kälte solche, die ihn wärmen. Man spricht von Homöostasis.4 Solche Mechanismen errichten damit einen Unterschied zwischen einem Innen und einem Außen – einem »milieu intérieur« im Gegensatz zum »milieu ambiant« oder »milieu cosmique extérieur« in den Worten Claude Bernards.5 Um die stabilisierenden Mechanismen zu errichten und zu erhalten, benötigt der Organismus einen Stoffdurchfluss zwischen Außen und Innen (und damit Mund und After, die, wie bei manchen Wirbellosen, durchaus auch identisch sein können).

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors