Mokkadrift
von David Wagner4. Juli 2022
hineingefallen: Bevor ich das Oldenburger Hotel verlasse, bemerke ich eine nostalgische Kühltruhe neben der zur Seite gleitenden Tür. Nehmen sie sich doch ein Eis, fordert die Frau an der Rezeption mich auf, bei der ich eben erst eingecheckt habe. In der Truhe liegen die meiner Alterskohorte wohlbekannten Eis-am-Stil-Klassiker Domino, Capri und Cuja Mara Split. Ich nehme ein Cuja Mara und denke daran, wie oft ich am Freibadkiosk oder im Tante-Emma-Laden nicht weit von meiner Grundschule die Groschen abgezählt habe. Heute bekomme ich dieses Eis vermeintlich geschenkt – und bin schon hineingefallen, der Trick hat funktioniert, ich mag das Hotel am Waffenplatz noch ein bisschen mehr.
gesehen: Dem Hotel gegenüber liegt ein großes Klavier- und ein noch größeres Parkhaus, Letzteres muss aus den späten fünfziger oder frühen sechziger Jahren stammen. Es handelt sich um einen luftigen Skelettbau, offen und einsehbar, leider wurde der Sicht- und Spannbeton irgendwann bunt bemalt; jede Etage hat nun eine andere Farbe, das streng funktionalistische Gebäude sieht nun wie ein Papageien- oder Kindergartenparkhaus aus. Zwischen den systemgastronomischen Einrichtungen am Platze (»Sausalitos«, »Peter Pane«) sprudeln (wie neuerdings auf so vielen Stadtplätzen in Deutschland) Bodenfontänen aus dem Pflaster, wirkungsvoll und praktisch, weil keine unverrückbaren Brunnenbauten einer kommerziellen Nutzung der vollversiegelten Fläche im Weg stehen.
geschaut: Weil ich nicht zu Mittag gegessen habe, esse ich nach dem Eis eine Miniportion Belgischer Pommes Frites. Sitze in einem Imbiss, sitze am Fenster, schaue auf eine stark frequentierte Fußgängerzonenkreuzung, und mir kommt der Gedanke, dass Oldenburg mit der Basarstadt ein frühes Fußgängerreservat errichtet haben könnte – impliziert der Begriff Fußgängerzone nicht, dass Fußgehende außerhalb des ihnen zugewiesenen Schutzgebiets nichts verloren haben?
mitgehört: »Onken hat vieles, manches hat nur Onken«, lautet der Werbespruch des alteingesessenen Oldenburger Schreibwarengeschäfts, in dem ich Ansichtskarten kaufe. Auf einer von ihnen steht zwischen den abgebildeten Sehenswürdigkeiten »Kulturmetropole Kulturstadt Oldenburg«. Während ich anstehe, um zu bezahlen, höre ich, wie die Kundin vor mir der Frau an der Kasse von ihrer Chemotherapie erzählt. Das nächste Mal komme ich dann ohne Haare, sagt sie. Hauptsache, dein Kopf bleibt dran, antwortet die Kassiererin, ich möchte dich wiedersehen.
gelacht: Auf der nicht so belebten Rückseite der Lambertikirche sitzt ein junges Punkmädchen mit rotgefärbtem Iro auf dem Boden. Sie trägt große weiße Kopfhörer, lehnt mit dem Rücken an der Außenwand der Kirche und liest, ich muss lachen, Christiane F., Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Und dann frage ich mich, ob die junge Frau vielleicht vom Oldenburger Kulturmetropolen-Stadtmarketing dort hingesetzt wurde und ein Honorar kassiert für ihr performatives Lesen in der Öffentlichkeit.
gegessen: Ein Sticker auf der Speisekarte des »Mamma Mia« behauptet, hier gebe es die beste Pizza Oldenburgs, die Fernsehsendung irgendeines Privatsenders will das festgestellt haben. Das Restaurant, es sind tatsächlich Italiener, die es führen, ist gut gefüllt; die Terrasse zum Marktplatz und zum Chor der Lambertikirche hin ist ebenfalls voll besetzt, die bodentiefen Fenster wurden geöffnet, auch drinnen frische Luft, die Pandemie ist nicht vorbei. Meine Tischnachbarin erzählt von einem aus Oldenburg stammenden Großgastronomen, dem nicht nur die beiden Lokale gegenüber – eines heißt »Bar Celona«, ein anderes »MA« –, sondern auch die Kette »Café Extrablatt« gehöre. Sie ist mir bekannt, weil ich mangels Alternative schon in einigen westdeutschen Klein- und Mittelzentren gezwungen war, mich dort systemgastronomisch verwöhnen zu lassen, auf Lesereise in Lüdinghausen oder Neustadt an der Weinstraße zum Beispiel. Der erfolgreiche Großgastronom sei auch schriftstellerisch tätig, erfahre ich, er habe ein nicht uninteressantes Buch über seinen Aufstieg vom, nun ja, Tellerwäscher zum Multimillionär geschrieben. Klaus Modick sitzt mit am Tisch, und weil ich weiß, dass er vor langer, langer Zeit den Eisnamen »Ed von Schleck« erfunden hat, erzähle ich ihm von der nostalgischen Kühltruhe in der Lobby des Hotel Altera.
5. Juli 2022
hineingeraten: Zweimal überqueren Eichhörnchen vor mir die Straße, mitten in Oldenburg. Ich muss in die Eichhörnchenzone geraten sein.
betrachtet: Im Oldenburger Landesmuseum bewundere ich das antike Barberini-Mosaik, das den Raub der Europa zeigt, und die einmal über vier Meter lange Haarmähne eines 1633 geborenen Barockpferdes namens Kranich, einst das Lieblingspferd des Grafen Anton Günther. Kaum andere Besucher in den weiten Sälen, in denen es einmal eine hochkarätige Gemäldesammlung gegeben haben soll, welche die beleidigten Nachfahren des abgesetzten Großherzogs in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts leider unrechtmäßig verkauften; Wagenladungen hochwertiger Bilder sollen über die Niederlande in den internationalen Kunsthandel gelangt sein. Etliche Tischbeins – Goethe-Tischbein Johann Heinrich Wilhelm war Hofmaler in Oldenburg – sind geblieben. Aus einem der Fenster im zweiten Stock, schöne Aussicht, bietet sich ein amüsantes tableau vivant: Drei Mädchen mit prall gefüllten New-Yorker-Tüten stehen auf dem Schlossplatz – nicht mit Stoffbeuteln der amerikanischen Zeitschrift, die Kulturangeber so gern zu Berliner Kulturveranstaltungen tragen, sondern mit Plastiktüten des Billo-Kleidergeschäfts, das eine Filiale in der Shopping Mall gegenüber betreibt, die anstelle der nach dem Krieg abgerissenen klassizistischen Randbebauung errichtet wurde. Die drei Grazien vom Lande veranstalten eine Modenschau mit gerade erworbenen Tops, jeweils eine von ihnen hüpft auf den schmalen, leicht erhöhten Grünstreifen vor der Schlossfassade und posiert, das Mäuerchen ist ihr Laufsteg, die beiden anderen Rubensschönheiten filmen mit ihren Handys.