Heft 903, August 2024

Theaterkolumne

Osten von Ekkehard Knörer

Osten

Jena

Die im vergangenen Jahr wohl am meisten beachtete, beim Theatertreffen in Berlin von Publikum wie Kritik am lautesten gefeierte und mit gleich zwei Preisen ausgezeichnete Inszenierung kam aus einem Theater im Osten. Entstanden war sie nicht an einer der großen, auch finanziell gut ausgestatteten Bühnen in Leipzig oder Dresden, sondern an einem kleineren Theater, das außer Kennern der Szene kaum jemand auf dem Schirm gehabt hatte: nämlich am Theaterhaus Jena.

Der Titel des Stücks – Die Hundekot-Attacke – zeigt einerseits deutlich an, worum es darin geht, führt andererseits klug in die Irre. Sehr wohl ist die degoutante Attacke, bei der der Star-Choreograf Marco Goecke der FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster den Kot seines heißgeliebten (inzwischen verstorbenen) Dackels ins Gesicht rieb, Ausgangspunkt des Abends. Aber nicht nur werden die Namen der beiden niemals genannt, das Ganze erweist sich bald als ganz anders, als man gedacht hat. Nämlich als pseudodokumentarisches Making-of einer gescheiterten theatralen Auseinandersetzung mit dem Vorfall. Die meiste Zeit sitzen die Darstellerinnen und Darsteller auf Stühlen in einer Reihe und lesen aus E-Mails, in denen sich vermeintliche Inszenierungsideen, persönliche Gekränktheiten und Diskussionen über die Hundekot-Affäre ineinander verwickeln. Das ist clever, ja klug, und es ist komisch.

Die Hundekot-Attacke spielt so auf mindestens doppeltem Boden, ganz ausdrücklich sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler darüber, dass es gelingen könnte, mit dem bewusst spekulativ gewählten Gegenstand auch einmal die überregionale Kritik in die thüringische Theaterprovinz zu locken. Die Logik von Clickbait und medialen Aufmerksamkeitsökonomien wird mitreflektiert, eine Pointe, die mit dem sich immer steigernden Erfolg und der Einladung zum Theatertreffen nach Berlin – im Stück selbst als Fantasie schon halb antizipiert – zusehends abgründiger wurde. Durchgespielt wird das Verhältnis von Kunst und ihrer Kritik auf vielen Ebenen, etwa im autobiografisch grundierten Drama um die Gekränktheit eines der Schauspieler, Leon Pfannenmüller, durch einen als heftig erinnerten Verriss zu Beginn seiner Karriere in München. Dass sich dieser Verriss beim Wiederlesen als eher halb so schlimm erweist, gehört zu den dialektischen Volten, die das Stück bereithält. Eine weitere ist das letzte Drittel, in dem dann überraschenderweise doch noch eine nicht nur komisch gemeinte choreografische Umsetzung der in den E-Mails, die das Stück bis dahin ausmachen, entwickelten Ideen als Tanz und Action-Painting performt wird.

Der Höhepunkt des Abends ist ein Rap, vorgetragen von Nikita Buldyrski (der nicht zuletzt dafür beim Theatertreffen prompt den Alfred-Kerr-Darstellerpreis erhielt). Er ist nicht weniger als eine Ode an das Publikum vor Ort und vor allem die lokale Kritik und die namentlich genannten Kritikerinnen, die sich abseits der nationalen Aufmerksamkeit liebevoll und geduldig mit dem Theaterhaus in Jena – und so vielen anderen der nach wie vor enorm vielen Bühnen, Deutschland hat die höchste Theaterdichte der Welt – in den deutschen Provinzen befassen. Theater ist schließlich, wenn nicht gerade Pandemie ist: vor Ort. Mit der jeweiligen Stadtgesellschaft verbunden, nicht notwendig harmonisch, besonders lebendig sind Theater meistens da, wo sie sich als ästhetische und politische Herausforderungen für die Mehrheitsgesellschaft begreifen. Schon gar nicht geht es – außer in den völkischen Fantasien der Rechten – um Verwurzelung von Stoffen, Texten, Spielformen und Akteuren im Sinn einer Autochthonie (des »Deutschen« oder auch des Lokalen).

Das Theaterhaus Jena war in der DDR über Jahrzehnte eine Nebenspielstätte des Nationaltheaters in Weimar. Nach der Wende hat es sich zu einem der in seinen Strukturen ungewöhnlichsten Theater in Deutschland entwickelt. Es hat die Rechtsform der eigenständig, wenngleich mit Zuschüssen wirtschaftenden gGmbH, die es erlaubt, Mitarbeiterinnen zu Gesellschaftern zu machen. Ost-Prominenz wie Heiner Müller und Frank Castorf kämpfte für dieses Modell, ausdrückliches Vorbild waren aber auch Kollektivexperimente im Westen wie die Schaubühne in Berlin und das Theater an der Ruhr von Roberto Ciulli. Die Räumlichkeiten blieben über lange Jahre provisorisch, was vielfältige Aktionen, die in den Stadtraum hineinwirken, aber erleichtert. Die künstlerische Leitung und die Darstellerinnen wechseln bewusst nach wenigen Jahren, was immer neue Experimente und Konzepte ermöglicht und die Verlangweiligung durch Routine verhindert. 

Die Hundekot-Attacke war ans Ende der Zeit platziert, in dem das niederländische Kollektiv Wunderbaum die künstlerische Leitung am Theaterhaus hatte. Die Leitung – und auch das Ensemble – waren also ganz und gar nicht in Jena verwurzelt, haben sich aber durchweg die Zuwendung zur Stadt und zum Land auf die Fahnen geschrieben: »Das klassische und kanonische Repertoire war in der ersten Spielzeit abwesend, stattdessen geht das Theater fragend und forschend in die Stadt und die Probenprozesse hinein und entwickelt neue Stücke, die in dieser Form nur in Jena zu sehen sind. Dabei sind die Themen nah an der Lebensrealität der Stadtgesellschaft, sei es etwa die Auseinandersetzung mit dem Selbstbild Thüringens im Thüringen Megamix, die Beschäftigung mit den Körperbildern vor den Schablonen der Lebensreformbewegung, der FKK-Kultur und der Gegenwart in Nackt oder die interkulturellen Herausforderungen der Migration in hätte, hätte, Fahrradkette

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