Theaterkolumne
Osten von Ekkehard KnörerJena
Die im vergangenen Jahr wohl am meisten beachtete, beim Theatertreffen in Berlin von Publikum wie Kritik am lautesten gefeierte und mit gleich zwei Preisen ausgezeichnete Inszenierung kam aus einem Theater im Osten. Entstanden war sie nicht an einer der großen, auch finanziell gut ausgestatteten Bühnen in Leipzig oder Dresden, sondern an einem kleineren Theater, das außer Kennern der Szene kaum jemand auf dem Schirm gehabt hatte: nämlich am Theaterhaus Jena.
Der Titel des Stücks – Die Hundekot-Attacke – zeigt einerseits deutlich an, worum es darin geht, führt andererseits klug in die Irre. Sehr wohl ist die degoutante Attacke, bei der der Star-Choreograf Marco Goecke der FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster den Kot seines heißgeliebten (inzwischen verstorbenen) Dackels ins Gesicht rieb, Ausgangspunkt des Abends. Aber nicht nur werden die Namen der beiden niemals genannt, das Ganze erweist sich bald als ganz anders, als man gedacht hat. Nämlich als pseudodokumentarisches Making-of einer gescheiterten theatralen Auseinandersetzung mit dem Vorfall. Die meiste Zeit sitzen die Darstellerinnen und Darsteller auf Stühlen in einer Reihe und lesen aus E-Mails, in denen sich vermeintliche Inszenierungsideen, persönliche Gekränktheiten und Diskussionen über die Hundekot-Affäre ineinander verwickeln. Das ist clever, ja klug, und es ist komisch.
Die Hundekot-Attacke spielt so auf mindestens doppeltem Boden, ganz ausdrücklich sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler darüber, dass es gelingen könnte, mit dem bewusst spekulativ gewählten Gegenstand auch einmal die überregionale Kritik in die thüringische Theaterprovinz zu locken. Die Logik von Clickbait und medialen Aufmerksamkeitsökonomien wird mitreflektiert, eine Pointe, die mit dem sich immer steigernden Erfolg und der Einladung zum Theatertreffen nach Berlin – im Stück selbst als Fantasie schon halb antizipiert – zusehends abgründiger wurde. Durchgespielt wird das Verhältnis von Kunst und ihrer Kritik auf vielen Ebenen, etwa im autobiografisch grundierten Drama um die Gekränktheit eines der Schauspieler, Leon Pfannenmüller, durch einen als heftig erinnerten Verriss zu Beginn seiner Karriere in München. Dass sich dieser Verriss beim Wiederlesen als eher halb so schlimm erweist, gehört zu den dialektischen Volten, die das Stück bereithält. Eine weitere ist das letzte Drittel, in dem dann überraschenderweise doch noch eine nicht nur komisch gemeinte choreografische Umsetzung der in den E-Mails, die das Stück bis dahin ausmachen, entwickelten Ideen als Tanz und Action-Painting performt wird.
Der Höhepunkt des Abends ist ein Rap, vorgetragen von Nikita Buldyrski (der nicht zuletzt dafür beim Theatertreffen prompt den Alfred-Kerr-Darstellerpreis erhielt). Er ist nicht weniger als eine Ode an das Publikum vor Ort und vor allem die lokale Kritik und die namentlich genannten Kritikerinnen, die sich abseits der nationalen Aufmerksamkeit liebevoll und geduldig mit dem Theaterhaus in Jena – und so vielen anderen der nach wie vor enorm vielen Bühnen, Deutschland hat die höchste Theaterdichte der Welt – in den deutschen Provinzen befassen. Theater ist schließlich, wenn nicht gerade Pandemie ist: vor Ort. Mit der jeweiligen Stadtgesellschaft verbunden, nicht notwendig harmonisch, besonders lebendig sind Theater meistens da, wo sie sich als ästhetische und politische Herausforderungen für die Mehrheitsgesellschaft begreifen. Schon gar nicht geht es – außer in den völkischen Fantasien der Rechten – um Verwurzelung von Stoffen, Texten, Spielformen und Akteuren im Sinn einer Autochthonie (des »Deutschen« oder auch des Lokalen).
Das Theaterhaus Jena war in der DDR über Jahrzehnte eine Nebenspielstätte des Nationaltheaters in Weimar. Nach der Wende hat es sich zu einem der in seinen Strukturen ungewöhnlichsten Theater in Deutschland entwickelt. Es hat die Rechtsform der eigenständig, wenngleich mit Zuschüssen wirtschaftenden gGmbH, die es erlaubt, Mitarbeiterinnen zu Gesellschaftern zu machen. Ost-Prominenz wie Heiner Müller und Frank Castorf kämpfte für dieses Modell, ausdrückliches Vorbild waren aber auch Kollektivexperimente im Westen wie die Schaubühne in Berlin und das Theater an der Ruhr von Roberto Ciulli. Die Räumlichkeiten blieben über lange Jahre provisorisch, was vielfältige Aktionen, die in den Stadtraum hineinwirken, aber erleichtert. Die künstlerische Leitung und die Darstellerinnen wechseln bewusst nach wenigen Jahren, was immer neue Experimente und Konzepte ermöglicht und die Verlangweiligung durch Routine verhindert.
Die Hundekot-Attacke war ans Ende der Zeit platziert, in dem das niederländische Kollektiv Wunderbaum die künstlerische Leitung am Theaterhaus hatte. Die Leitung – und auch das Ensemble – waren also ganz und gar nicht in Jena verwurzelt, haben sich aber durchweg die Zuwendung zur Stadt und zum Land auf die Fahnen geschrieben: »Das klassische und kanonische Repertoire war in der ersten Spielzeit abwesend, stattdessen geht das Theater fragend und forschend in die Stadt und die Probenprozesse hinein und entwickelt neue Stücke, die in dieser Form nur in Jena zu sehen sind. Dabei sind die Themen nah an der Lebensrealität der Stadtgesellschaft, sei es etwa die Auseinandersetzung mit dem Selbstbild Thüringens im Thüringen Megamix, die Beschäftigung mit den Körperbildern vor den Schablonen der Lebensreformbewegung, der FKK-Kultur und der Gegenwart in Nackt oder die interkulturellen Herausforderungen der Migration in hätte, hätte, Fahrradkette.«1
Zum Abschluss der Wunderbaum-Zeit passte die Meta-Form, die das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, regionaler und überregionaler Ausstrahlung befragt, sehr genau ins Programm. Der gerade von der abgebrühten Hauptstadtkritik hier und da zu hörende Vorwurf, dass sich in diesem Stück das Theater mal wieder nur für das Theater interessiere, geht an dieser spezifischen Situierung völlig vorbei. Dieses Theater interessiert sich für das Theater als Teil dieser Welt. Zu der auch die strikte Befristung der Jobs des Ensembles gehört. Die Tatsache, dass alle bereits auf der Suche nach neuen Jobs sind, spielt in den vorgetragenen Mailwechseln keine ganz nebensächliche Rolle – und machte die umjubelten Aufführungen beim Theatertreffen zu einem Vorspiel eigener Art. Das ist konkret und meta zugleich, alle tragen autofiktiv ihre eigenen Namen, aber es spiegelt sich in der spezifischen Situation dieses Ensembles in diesem Theater an diesem Ort wie schon bei der Diskussion der Hundekot-Affäre viel Grundsätzliches, zur Prekarität dieses Berufs und zum Verhältnis von öffentlich geförderter Kunst und ihrer Kritik. Es ist die List des Lokalen, die hier in kluger Selbstreflexion triumphierte.
Schwerin
Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin ist ein mächtiger historistischer Bau aus dem späten 19. Jahrhundert. Fassade: Neorenaissance. Saal: Neobarock. Von der Vorderseite freier Blick über einen weiten Platz auf das Schweriner Schloss auf seiner vorgelagerten Insel, das viel älter ist, aber seine gegenwärtige Gestalt erst im 19. Jahrhundert annahm und in seinem Chateau-Begehren seinerseits ein so beeindruckendes wie leicht monströses Zeugnis des historistischen Wahns ist, in architektonisch herbeigezauberten Vergangenheiten leben zu können.
Das Theater in Schwerin ist ein Mehrspartenhaus, es macht ambitioniert und erfolgreich seine Arbeit im eigenen Historismusambiente und begibt sich für die Schlossfestspiele im Sommer ins Freie, in diesem Jahr etwa mit dem Tartuffe in einer Version von PeterLicht. Eher selten, etwa so selten wie beim Theaterhaus Jena, geschieht, was Anfang Juni geschah: dass nämlich ganz Theaterdeutschland auf Schwerin aufmerksam wird und Kritikerinnen und Fans sich in Berlin oder Hamburg in den Regionalexpress setzen, um eine Vorstellung im Mecklenburgischen Staatstheater zu besuchen.
Die Kombination war einfach zu reizvoll. Bei der Ausgrabung der Hindemith-Kurzoper Sancta Susanna nach einem Text des radikalen Expressionisten August Stramm alleine hätte noch niemand mit der Wimper gezuckt. Das fiebrige Musikdrama um die Jesus-Ekstase einer Nonne war einst ein Skandalstück, liegt aber definitiv am Rand des Repertoires und erregt nicht mehr viel Aufsehen bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen es gespielt wird. Wenn aber Florentina Holzinger und ihre Truppe sich der Sache annehmen, ist das ganz anders. Die Wienerin Holzinger nämlich ist seit ein paar Jahren die wohl meistgefeierte Künstlerin im deutschsprachigen Theater. Sie ist ausgebildete Choreografin, hat zunächst beim Tanz und in der Freien Theaterszene Aufmerksamkeit erregt, wird inzwischen aber vor allem von den öffentlichen Bühnen – nicht zuletzt der Volksbühne in Berlin – für ihre spektakulären Performances engagiert.
Es ist ein Theater, das so noch nicht miteinander verbundene Mischformen sucht, zwischen Tanz und Nummernrevue, Zirkus und Extremsport, Grand Guignol und Zaubershow, Wiener Aktionismus und Marina Abramovič. Nicht ganz nebensächlich: Die Performerinnen sind in der Regel vollständig und auf sehr selbstverständliche und selbstbewusste Weise nackt, aus dem body-positiven feministischen Verständnis heraus, dass kein weiblicher Körper sich auf attraktiv zu dressieren hat. Was auf der Bühne passiert, ist oft starker Tobak, das Theater in Mecklenburg ist im Foyer und den Gängen mit Trigger-Warnungen gepflastert: Masturbation und anderer Sex, Baby im Kochtopf, Splatter und Blut, Selbstverletzung, body suspension an durch die Haut getriebenen Metallklammern, nackte Frauen, die an in der Luft schwebenden Motorrädern oder Kränen oder einem Hubschrauber turnen. Das alles aber stets angebunden an auf der Bühne erzählte persönliche Diskriminierungs-, Missbrauchs- und Traumatisierungsgeschichten, als deren Bearbeitung sich das Ganze versteht: verletzte Frauen, die sich gemeinsam empowern, versehrte Körper und Seelen, die das Trauma im Reenactment, in der Wiederversehrung, wiederholen, durcharbeiten und (nicht zuletzt mit Ironieoptionen) auf Distanz bringen, Deutungs- und Handlungsmacht an die Versehrten rücküberstellen.
Dies nun als Oper. Premiere ausgerechnet im Mecklenburgischen Landestheater, das sich die Kombination von Hindemiths Nunsploitation und Florentina Holzinger ausgedacht hat. Koproduziert ist die Inszenierung mit vertrauteren Stätten (unter anderem den Wiener Festwochen unter dem neuen Intendanten Milo Rau, der Staatsoper Stuttgart und der Berliner Volksbühne, als deren größtes Asset sich Holzinger schon während René Polleschs schwieriger Intendanz erwies) – die Bedingungen aber hat Schwerin vorgegeben. Das Musikdrama von Hindemith ist, mit zwei Sängerinnen und Chor im Nonnenkostüm, noch einigermaßen konventionell inszeniert. Nur das Bühnenbild lässt schon Holzinger ahnen. Eine Halfpipe füllt den Mittelgrund, eine Boulder-Wand den Hintergrund aus. Nach rund zwanzig Minuten aber ist die Oper vorbei, und es beginnt die eigentliche Holzinger-Show.
Zusammengehalten, wenn auch manchmal recht mühsam, wird ihr Theater der Attraktionen durch einen thematischen oder motivischen Faden. Tanz (2020) war, da führte der Titel nicht in die Irre, auf die Zurichtungen des klassischen Balletts fokussiert, im Zentrum stand als (natürlich auch nackte) Showmasterin und Zuchtmeisterin die siebenundsiebzigjährige Beatrice Cordua, einst Primaballerina in legendären John-Neumeier-Choreografien. Schon etwas gezwungener war die ebenfalls zum Theatertreffen eingeladene Talentshow mit durchgängigen Wassermotiven Ophelia’s Got Talent (2022), die der Gefahr des Zerfalls in die etwas beliebige Nummernrevue nicht völlig entging. Sancta bindet sich nun an den Katholizismus, insbesondere die katholische Liturgie, und das ist natürlich ein Schatzhaus der Symbole, Themen, Motive und nicht zuletzt Rituale, die sich in feministischen Les-, Gesangs-, Zubereitungs- und Tanzarten pervertieren und transgressiv aneignen lassen.
Aneignung, Perversion, Transgression: Einerseits ist es genau das, was passiert, bis hin zum Wandlungswunder, das in einen sehr buchstäblichen kannibalistischen Akt umgesetzt wird: Eine Frau lässt sich mit dem Skalpell ein Stückchen Haut entfernen, das später frittiert, gepfeffert, gesalzen und auf offener Bühne verspeist wird. An einem in der Höhe schwebenden Kreuz schweben zwei Frauen mit und kopulieren davor und daran. Eine große Glocke schwingt, mit menschlichem Klöppel darin, später wird an ihr artistisch geturnt. Im Hintergrund Fisting an der Boulder-Wand. Außerdem im Programm: eine kleinwüchsige, selbstidentifiziert lesbische Päpstin, die erst im Himmel und nicht auf Erden flammende Strafeden hält und dann an einem Schwenkarm recht unpäpstlich vielfach um 360 Grad rotiert. Die Kletter- ließ sich auch als Leinwand für Filmprojektionen nutzen, in einer längeren Sequenz wird dabei recht ohrenbetäubend das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle zertrümmert. Dazu, daneben, darunter viel Musik, nicht mehr von Hindemith, stattdessen geistliche Werke, etwa ein Kyrie Eleison, die Sängerinnen (manche, nicht alle am Ende auch nackt) platzieren sich vor den Wänden des Zuschauersaals und tauchen das Publikum in geistliches Lied. Es gibt weiter Orchestermusik (dirigiert von Marit Strindlund), aber auch eher Rockopernhaftes sowie Heavy Metal, außerdem eine famose Solistin, die, nur in eine Schwebekonstruktion gegürtet, Songs wie It’s Raining Men intoniert.
Dies alles ging mit der traditionellen katholischen Auffassung der Liturgie gar nicht konform. Bei der Aufführung einen Monat später in Wien waren zwei Bischöfe, die selbstverständlich nicht vor Ort gewesen waren, nicht sehr amused. Der im Vorfeld von manchen erwartete Skandal blieb in Schwerin aber aus. Wahrscheinlich deshalb, weil sich die Inszenierung eben nicht auf Parodie, Karikatur, Blasphemie und Kritik reduzierte. Von alledem war etwas darin, aber je länger man zusah, desto klarer wurde auch die große Affinität des Holzinger-Programms zum Katholizismus. Kein Wunder vielleicht bei einer Truppe, die aus Österreich stammt. Ein ans Kreuz genagelter Mann, eine vom Schwert geschlagene Wunde, in die einer die Hand hineinlegt, O-Ton Holzinger: »Ja, natürlich, die Kreuzigung muss stattfinden. Nägel durch die Hand und den Körper Christi ingestieren und solche Sachen, klar. Mich interessieren die christliche Liturgie und die Rituale der katholischen Kirche, natürlich auch die Wunder und die Magie der Bibel. Wir arbeiten überhaupt sehr viel mit Magie in dieser Show, um diese christlichen Transformationen wirklich stattfinden zu lassen. Um die simpelsten zu nennen: Wasser zu Wein, Wein zu Blut, das Brot als Körper, den man essen kann.«2
Und so entpuppte sich Sancta als Transformation eigener Art: ein kleines Wandlungswunder, das aus dem Papst eine Päpstin macht, aus Jesus eine bärtige Frau mit viel Schmäh (auf Schweizerdeutsch), aus Christus bei der Hochzeit zu Kana eine Magierin, die aus dem Nichts immer weitere Weinflaschen herbeizaubern kann. Die nackten Frauen mit Nonnenhauben, die durch die Halfpipe skaten, sind womöglich ohne biblisches Vorbild, aber sie passen ins Bild. Szene für Szene handelt es sich bei diesem feministischen Postkatholizismus um die so komische wie liebevolle, so logische wie surreale, in ihren Pervertierungen nicht destruktive, sondern befreiende und empowernde Aneignung. Nur konsequent, dass alles mit dem ungeschützten Pathos endet. Eine trans Frau predigt die Liebe, ruft das Publikum zu Orgien auf. Die bleiben aus, aber nicht die Standing Ovations eines Publikums, das sichtlich gemischt ist: Die angereisten Kritikerinnen und die Holzinger-Fangirls spenden ebenso begeistert Applaus wie die festlich gekleideten Abonnentinnen der Oper Schwerin.
Beschwingt gehen wir durch die puppenstubenhafte, um die Uhrzeit recht ausgestorbene Innenstadt zurück zum Hotel. Von hinten nähert sich eine kleine Gruppe männlicher Teenager, die auf einen anderen Sommerhit als Hindemiths Sancta eingestimmt ist. Sie singen, was man auf Sylt und andernorts singt: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus«, Gigi d’Agostinis Hymne auf die Liebe Toujours l’amour, in einen menschenfeindlichen Hassgesang transformiert.
Bitterfeld-Wolfen
Die einst eigenständigen Braunkohle- und Chemiestädte Bitterfeld und Wolfen, jede auf ihre Weise berühmt beziehungsweise berüchtigt, sind nach der Wende stark geschrumpft und (mit drei weiteren Gemeinden) seit 2007 zu einer Bindestrich-Stadt zusammengelegt. Es gibt ein Kulturhaus in Wolfen, aber es gibt kein Theater. Im Kulturhaus mit seinem großen Saal finden Lesungen statt, Musicals kann man sehen, Konzerte, eine städtische Bühne jedoch ist das nicht. Größer noch war der Kulturpalast (einst: Kulturpalast Wilhelm Pieck), ein 1959 errichteter, ziemlich monumentaler neoklassizistischer Bau an einer Ausfallstraße im Bitterfelder Chemie-Gewerbegebiet, in der DDR berühmt wegen der Konferenzen, die die Losung vom Bitterfelder Weg (»Greif zur Feder, Kumpel«, eine Prägung des bald zensierten Schriftstellers Werner Bräunig) ausriefen, aber auch ein Ort für Theater, für Konzerte (1965 war einmal Udo Jürgens zu Gast), für Unterhaltungsshows, die im Fernsehen liefen, für große Feiern und für die Jugendweihe, das nicht zuletzt.
Wechselvoll war das Schicksal nach der Wende, bis zur Schließung 2015, 2017 gar: Abrissantrag. In letzter Minute jedoch fand sich mitten in der Pandemie ein Käufer, Matthias Goßler, erfolgreicher Betreiber einer Event-Agentur aus der Nähe von Bitterfeld. Er wollte den Ort für Events und Veranstaltungen wiederbeleben, als erste große Aktion unterstützte er 2022 ein Festival, das im Kulturpalast und in seiner Umgebung stattfinden sollte und sich schlicht und selbstbewusst den Namen OSTEN gab. Wenige Tage vor Festivalbeginn kam Goßler bei einem Autounfall ums Leben, das Festival fand als entspannter Hochbetrieb um den Kunstpalast statt. Dieser blieb im Besitz von Goßlers Witwe. Sie ist bis heute auf der Suche nach Käufern, die zum Engagement im Sinne des Verstorbenen bereit sind. Der Palast ist unterdessen zurückgesunken in seinen Dornröschenschlaf, auf den Stufen wächst Gras durch die Ritzen, vor dem Eingang erinnern im Juni 2024 eine Tafel und Blumen an den verstorbenen Goßler.
Das Festival OSTEN ist zwei Jahre nach der ersten Ausgabe wieder vor Ort. Nicht im Kulturpalast, sondern diesmal in einer aufgelassenen Feuerwache in Wolfen, mitten auf dem ehemaligen ORWO-Gelände. ORWO stand, es wird nicht jeder mehr wissen, für »Original Wolfen« und war, in der Nachfolge der 1909 hier gegründeten Agfa, die Fabrik, in der in der DDR Filmmaterial für Foto und Film, aber auch Röntgenplatten und Magnetbänder hergestellt wurden. OSTEN geht die Sache anders an als das größte Kulturprojekt für den Osten, das Lausitz-Festival, das mit viel Geld sowie Daniel Kühnel, dem hochberühmten Impresario-Intendanten aus Hamburg, aber ohne großen Input der Initiativen und Veranstalter und Menschen vor Ort ziemlich x-beliebige Hochkultur plus ausgesprochen intellektuellen Debattierbetrieb (oder in der Eigendarstellung »feinste bildende Kunst und eine elaborierte und ungewöhnliche Gesprächsreihe«) in die größeren und kleineren Städte der Lausitz verschickt. Wo sie nicht unbedingt auf die erwartete Dankbarkeit trifft, sondern auf teils heftige Kritik, die den Paternalismus der Sache zu Recht kritisiert, von trotzigem Beharren auf der eigenen Provinzialität aber auch nicht vollständig frei ist.
Gegen ein solches Kuratieren im Top-down-Beglückungsverfahren lieferte das OSTEN-Festival, das an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden im Juni stattfand, sehr bewusst das Gegenprogramm. Es ist ein Festival, in dessen Zentrum Theater und Performances stehen, es bietet aber auch Musik, Kunst, Literatur und Film. Eine Entführung mit dem Motorrad. Und eine Radtour, bei der man viel lernt. In diesem Jahr war eine Retrospektive des Dokumentarfilmers Thomas Heise programmiert, der, ein wenig ist das Festival von der Tragik verfolgt, unmittelbar vor Beginn des Festivals plötzlich verstarb. »Atelier für gegenseitiges Interesse« nennt sich ein Begegnungsraum, ebenso von raumlabor, einer Gruppe für künstlerische Innen- und Außenarchitektur, erbaut wie die Wasserrutsche aus Holz, die aus dem oberen Stockwerk der Feuerwache in einen Swimmingpool führt und nicht nur von anwesenden Kindern eifrig genutzt wird.
Beim letzten Mal ging man mit Schubkarren durch den Ausstellungsparcours, Erinnerung an den Braunkohletagebau. Die Radtour dauert dieses Mal mehr als drei Stunden, führt als Reenactment der ersten Umweltdemo der DDR von 1984 von Bitterfeld bis nach Wolfen, durch Ex-Tagebau und gegenwärtige (vergleichsweise unfassbar saubere) Chemieindustrie. Man kommt nebenbei mit Bewohnerinnen der Gegend ins Gespräch, die wie beim Festival insgesamt keinen geringen Teil der Besucher ausmachen. Man wird im offiziellen Radtourprogramm durch Experten und Zeitzeugen informiert, über den Dreck und das Gift der Vergangenheit, das noch auf Jahrhunderte Wasser und Boden verseucht. Dazwischen aber holt sich die Natur Biotope zurück, in denen Tiere kreuchen und fleuchen, denen man in der üblichen Agrarmonokultur schon lange nicht mehr begegnet. Wildschweine gibt es, erfahren wir, reichlich, aber sie haben auf uns keine Lust. Was es auch am Wegesrand gibt: Gedichte. Sie stammen von Autorinnen und Autoren des Bitterfelder Wegs, ein Lyriker aus der Region, Stefan Wartenberg, trägt sie vor und macht so einen Bitterfelder Radweg daraus.
Das Festival ist niedrigschwellig und deshalb nicht immer subtil. Es gibt Gelegenheiten, bei denen Subtilität wichtig und schön und angebracht ist. Und es gibt die anderen, zu denen OSTEN gehört, bei denen auch Wasserrutschen wunderbar sind. Schon weil Zugänglichkeit hier nicht ästhetische oder intellektuelle Schlichtheit bedeutet. Tyrannosaurus Regina des Künstlerinnenkollektivs hansjana zum Beispiel, eine Mischung aus Audio-Walk und Performance ist so witzig wie smart. Partout wird hier zusammengezwungen, was kaum zusammengehört: Dinosaurier und die Frage, wie frauenfreundlich die Politik der ebenfalls untergegangenen DDR tatsächlich war. Es geht auf die sehr trockene grüne Wiese, auf der einst ORWO-Fabrikbauten standen. Es kommen Dinosaurier im tollen Kostüm aus dem Gebüsch. Zuvor tauchte, noch überraschender, eine Linedance-Truppe nicht mehr ganz junger Frauen aus Bitterfeld-Wolfen aus dem Hintergrund auf und platzte in eine grandiose Performance zum Thema toxisch männlicher Paläontologie. Kooperationen wie diese sind die Frucht der gezielten, inzwischen schon vier Jahre zurückreichenden Vernetzung von Festival und Menschen und Vereinen vor Ort. Beim letzten Mal hat der Musiker Ari Benjamin Myers für das Festival ein Stück komponiert. Das »Werksorchester« wurde aus Musikschülerinnen und Erwachsenen ohne Vorkenntnisse an den jeweiligen Instrumenten zusammengefügt, wobei die Jungen den Alten das Spielen beibrachten. In diesem Jahr kam es zur Wiederbegegnung. So werden Fäden geknüpft und nicht fallengelassen.
Wer wie wir nur für einen Samstag nach Wolfen fährt, hat natürlich die meisten der 173 kleineren und größeren Ereignisse im Rahmen von OSTEN verpasst. Man bedauert so was nicht immer, hier schon. Dieser Samstag, an dem wir in Wolfen sind, ist allerdings ein besonderer Tag. Am Sonntag wird in Europa gewählt. Und vor dem Rathaus von Wolfen, dem beeindruckenden ehemaligen ORWO-Verwaltungsgebäude aus den dreißiger Jahren, das an Hans Poelzigs I. G.-Farben-Bau in Frankfurt erinnert, haben sich Menschen für einen Autokorso versammelt, zu dem die AfD aufruft. Fast alle sind mit Deutschlandfahnen bewimpelt, aber auch die Friedenstaube hat als Freundin Putins inzwischen zur Rechten rübergemacht. Die Worte des Einpeitschers, die mehr nach Biedermann als nach Brandstifter klingen, sind auf dem Festivalgelände deutlich zu hören. Im Vorfeld hat die AfD das Festival mit einer absurden Klage gegen zwei Kunstwerke getrollt, an diesem Nachmittag macht nun jeder seins, ohne dass eine Brücke vorstellbar wäre: das Festival seine inklusive und menschenfreundliche Kunst, der Autokorso und seine passiv-aggressive Deutschtümelei. Tags darauf wird die AfD in Bitterfeld-Wolfen mit fast 37 Prozent die mit weitem Abstand stärkste Partei.
Anmerkungen
Theaterhaus Jena //Rückblick. Ausblick. In: JenaKultur-Blog vom 4. Oktober 2019 (https://blog.jena.de/jenakultur/2019/10/04/theaterhaus-jena-rueckblick-ausblick/).
»Das Religionsding ist ein fucking Tabu«. Florentina Holzinger im Gespräch mit Heimo Lattner. In: Kultur Mitte Magazin vom 30. Mai 2024 (https://kultur-mitte.de/das-religionsding-ist-ein-fucking-tabu/).
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