Heft 917, Oktober 2025

Theaterkolumne

Osten (Abschiede) von Ekkehard Knörer

Osten (Abschiede)

Neustrelitz im südlichen Mecklenburg-​Vorpommern hat einen prächtigen Schlossgarten mit Orangerie, aber kein Schloss mehr, das nämlich 1945 komplett ausgebrannt und danach dem Boden gleichgemacht worden ist (keine Bomben, sondern Brandstiftung). Neustrelitz ist schön. Es ist als barocke Idealstadt entworfen, vom zentralen riesigen Marktplatz streben acht Straßen sternförmig weg. Das Geld, das nach der Wende in Sanierung und Wiederaufbau gesteckt worden ist, sieht man an allen Ecken und Enden. Auch Richtung Hafen und See, und Richtung Park, an dessen Rand steht das Landestheater. Der Standort ist alt, das Gebäude mehrfach niedergebrannt, so auch 1924, das Feuer scheint ein besonders hartnäckiger Feind von Neustrelitz zu sein. Der 1928 nach Plänen von Max Littmann errichtete Bau wurde 1954 und einem weiteren Brand äußerlich rekonstruiert, innen modernisiert, wobei der Saal mit seinen vierhundert Plätzen mit Parkett und Rang klassischen Mustern folgt. Littmann gilt als bedeutendster Reformer des Theaterneubaus in Deutschland, 1908 ist etwa das Nationaltheater in Weimar nach seinen Entwürfen entstanden. Seine Bauten sind ausdrücklich nicht in der Tradition der Hoftheater, sondern als selbstbewusst eigenständige Bürgertheater gedacht.

Die Stadt Neustrelitz hat nach der Wende rund ein Viertel ihrer Bewohner verloren, heute sind, immerhin seit Jahren stabil, gut 20 000 verblieben. Wenn eine Inszenierung an diesem überdimensionierten Theater fünf ausverkaufte Vorstellungen erlebt, bedeutet das also rein theoretisch, dass diese von rund zehn Prozent aller Einwohner besucht worden sind. Dies ist unlängst geschehen. Gelungen ist das kleine Wunder noch dazu mit einem fünfeinhalbstündigen Stück. Wege übers Land, so der Titel, war die Theaterversion einer in der DDR ungemein erfolgreichen Fernsehserie – beziehungsweise, wie es im Vorspann heißt: eines dramatischen Fernsehromans, Drehbuch von Martin Eckermann nach einem Szenario von Helmut Sakowski. Die Serie ist gut sieben Stunden lang, mit Ursula Karusseit, Manfred Krug und Armin Müller-​Stahl in den Hauptrollen. Im Fernsehen der DDR erstmals ausgestrahlt im Jahr 1968, die Einschaltquote lag dabei im Schnitt bei mehr als 77 Prozent.

Die Serie spielt in einem fiktiven mecklenburgischen Ort namens Rakowen, und sie setzt im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs ein. Der deutsche Blitzkrieg-​Sieg gegen Polen ist Gegenstand des ersten Dialogs im von Regisseur (und Intendant) Maik Priebe nach der Vorlage erarbeiteten Stück. Im Film radelt vor dem Vorspann erst noch der Star Manfred Krug als Kommunist Willi Heyer durch die mecklenburgische Landschaft, die Zentralfigur ist und bleibt in der Serie wie im Stück eine Frau. Gertraud Habersaat, die Protagonistin, ist angestellt auf einem Gutshof, auf dem sie dank disziplinierter Arbeit, aber auch eines Liebesverhältnisses mit dem Gutsherrn, zur zukünftigen Gutsherrin designiert scheint, allerdings aufgrund ihrer niederen Herkunft heftigen Widerstand von der Mutter des Gutsherrn erfährt.

Vom Krieg zum Knutschfleck ist der Weg schon im allerersten Dialog nicht weit, ohnehin rührt das Buch zum Fernsehroman Liebe, Klassenverhältnisse, Politik, Intimes und die große Gesellschaft durchweg in recht trivialer Manier untereinander. Im weiteren Verlauf geht es erst nach Polen, wo Habersaat mit einem Mann, den sie nicht liebt, auf einem von den Nazis requirierten Gut residiert. Sie rettet und adoptiert ein jüdisches Mädchen und einen polnischen Jungen, es gibt Szenen im Konzentrationslager, dann die Rückkehr nach Rakowen, wo die Heldin nach anfänglichem Widerstand gegen die Kollektivierung ihr Land aus eigenen Stücken in den Besitz einer LPG überführt – bis plötzlich und unerwartet der verschollene Mann vor der Tür steht: Er war in den Westen gegangen und kommt nun zurück und will bleiben.

Die Serie ist kein simples Propagandastück, aber sie fügt sich doch ohne großen Widerstand der Ideologie des sozialistischen Staats. Im vergleichsweise realistischen Blick auf das Fortdauern faschistischer Mentalitäten auch im Osten weicht sie von allzu strahlender DDR-​Selbstdarstellung ein wenig ab: So ganz umstandslos gelingt die Beseitigung der Nazi-​Ideologie im allegorischen Rakowen nicht. Dennoch ist der Kommunist Heyer ein Held nach dem Geschmack des Regimes; in der burschikosen Verkörperung durch Manfred Krug dem Publikum als Sympathieträger verdaulich gemacht: Als Bürgermeister greift er nach dem Krieg schon mal autoritär durch und sperrt Bauern, die ihren Beitrag zur Gemeinschaft verweigern, ohne Prozess in den Keller.

Allerdings fällt die Serie spürbar in die Jahre nach dem XI. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, das dem sich entwickelnden freieren Reden und Denken im Film der DDR ein brutales Ende gemacht hat. Eine Reihe von ganz oder mehr oder weniger fertiggestellten DEFA-​Filmen (wie Das Kaninchen bin ich oder Spur der Steine) wurden verboten und weggesperrt – Filme, die vor allem die Enttäuschung über die Entfernung vom idealistischen Kern des Sozialismus artikulierten, nicht zuletzt im realistischen Blick auf den immer spießiger und autoritärer werdenden realsozialistischen Staat. Der Weg zurück in die Geschichte, die Erzählung von der kommunistischen Überwindung des »Dritten Reichs« und dem mühsamen Neuanfang, den Wege übers Land wählt, ist zu diesem Zeitpunkt mindestens eine Ausweichbewegung.

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