Theaterkolumne
René Pollesch arbeitet hier nicht mehr von Ekkehard KnörerRené Pollesch arbeitet hier nicht mehr
Du hattest soviel zu geben, Resilein. /
Marmorkuchen.
Fabian Hinrichs
Vor einem Jahr, am 26. Februar 2024, ist René Pollesch, für alle unerwartet, im Alter von einundsechzig Jahren gestorben. Der Schauspieler Fabian Hinrichs, der mit Pollesch gearbeitet hatte, der Pollesch, wie er schrieb, wie kaum einen anderen liebte, verfasste sogleich einen Nachruf in Form eines Briefs, in dem er mit den bereits verfassten Nachrufen und überhaupt mit dem Verfassen schneller Nachrufe haderte. Wie sollen sich, fragte er, die »Gefühlsgedanken« so rasch sortieren: »Warum nicht Nachrufe erst in einem Monat, zwei Monaten, einem Jahr?«1 Er schrieb dann, es waren zwei Wochen vergangen, gleich noch einen nachrufähnlichen Erinnerungstext, in dem er von der gemeinsamen Arbeit am letzten Stück ja nichts ist ok erzählte.2 Und warum nicht, der Selbstwiderspruch ist gewiss kein unangemessener Umgang mit dem Tod. Schon der (erste) Text hatte ja mit den beschwörenden Worten geendet: »P. S. Vergesst ihn nicht. Vergesst ihn nicht.«
Das erste Jahr ist vergangen. Vergessen ist Pollesch ganz sicher nicht. Bei den Rückblicken auf das Theaterjahr 2024 steht sein Name ganz oben.3 Polleschs Tod war, das ist eher noch deutlicher geworden, für das deutsche Theater eine Zäsur. Nicht in erster Linie, aber auch weil damit die Berliner Volksbühne nach der Ära Castorf zum dritten Mal hintereinander vor der Zeit ihren Intendanten verlor. Erst hatte man Chris Dercon, der von der Kunst kam und dem im guten wie im schlechten Sinn provinziellen Volksbühnen-Milieu fremd blieb, aus der Stadt gejagt. Dann führten MeToo-Vorwürfe zum Abschied seines Interims-Nachfolgers Klaus Dörr. Darauf kehrte René Pollesch zurück. Er hatte Dercon, der ihn bei seinem Antritt, so will es die Legende, »weltberühmt« zu machen versprach, dankend abgesagt, ein Exil gesucht und bei der Berliner Konkurrenz am Deutschen Theater gefunden. Nach Dörrs Ende war die Not groß, und Pollesch übernahm die Intendanz der Volksbühne in einem in allen Selbsterklärungen als kollektiv deklarierten Projekt.
Das mit dem Kollektiven erwies sich als schwierig. Nicht nur die Strukturen, des Theaters selbst wie der (medialen) Öffentlichkeit, sorgten dafür, dass der Fokus doch sehr stark auf einem Einzigen lag, nämlich dem Intendanten Pollesch, der eben nicht nur Intendant war, und auch nicht nur, wie sein Vor-vor-Vorgänger Frank Castorf, zugleich weiterhin Regisseur; der auch als Intendant im Kollektiv in gewohnt hoher Schlagzahl einfach weiterschrieb und inszenierte. Ständig standen mehrere Pollesch-Inszenierungen auf dem Spielplan, sie waren in manchen Monaten das Einzige, was am Haus verlässlich gut besucht bis ausverkauft war. Man kam, um den »neuen Pollesch« zu sehen, und es gab nicht wenige, die überhaupt nur noch oder wieder ins Theater gingen, um die Sachen von Pollesch zu sehen.
Matthias Dell in seinem Nachruf: »Pollesch hat die Art und Weise verändert, wie wir Theater denken, wie Theater gespielt werden kann.«4 Das ist einerseits natürlich stark übertrieben, denn selbstverständlich wird, landauf und landab, weiter Theater gespielt – und womöglich sogar gedacht –, das von Pollesch ganz unberührt ist. So wie ja auch noch Theater gespielt wird, das von Piscator oder Brecht unberührt ist. Andererseits war das Pollesch-Theater doch von grundsätzlich eigener Art.
Diedrich Diederichsen, für den Pollesch einer »der an einer Hand abzählbaren maßgeblichen Künstler der Gegenwart« war,5 hat es in einer Laudatio so formuliert: »Nein, mir geht es darum, dass es keine Kleinigkeit, keine Marotte, kein bloßes ATTRIBUT des hier geehrten Autors ist, dass er sich als solcher nur im Zusammenhang mit seinen anderen Tätigkeiten und seinen anderen Autoren verstanden wissen will, sondern dass es in seiner Arbeit seit mehr als zehn Jahren um nichts anderes geht, als grundsätzlich die Funktion der einzelnen Beteiligten des arbeitsteiligen Unternehmens Theater neu zu bestimmen: Autorin, Darstellerin, Souffleur, Ensemble, Text, Musik – und so weit ich sehe, hat das seit Ewigkeiten sonst keiner versucht.« Und in der Tat war das Pollesch-Theater immer sofort wiedererkennbar an Spielweise, Sound, Theoriehintergrund; ein Antitheater, das Pop und Film appropriierte, aus persönlichen Idiosynkrasien, Zeitgeist und kollektiver Arbeit in rund zweihundert »Stücken« als eine Art Endlostext und Endlosinszenierung ganz einzigartig zusammengebaut.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.