Heft 889, Juni 2023

Was ist ein Narrativ? Zur anhaltenden Konjunktur eines unscharfen Begriffs

von Aleida Assmann

Geschichten und Erzählen in der Biografiearbeit

»Narrativ – wie leicht uns das Wort über die Lippen geht und wie wenig wir darüber wissen!«1 Dieser Stoßseufzer von Kathrin Röggla ist ein guter Ausgangspunkt für den folgenden Versuch einer Begriffsklärung. Manchmal lässt sich das Wort einfach durch andere Begriffe ersetzen. Wenn zum Beispiel vom »Narrativ« einer Ausstellung gesprochen wird, dann ist das Design und der Spannungsbogen gemeint, der für die Besucherinnen und Besucher erkennbar sein soll. In vielen anderen Fällen kann man »Narrativ« einfach durch das Wort »Argument« ersetzen. Aber damit sind wir die Fragen, die sich um den Begriff herum aufgebaut haben, noch nicht los. Denn »Narrativ« wird inzwischen immer häufiger im Wechsel mit Begriffen wie »Geschichte« oder »Erzählung« verwendet, deren Gebrauch ebenfalls zugenommen und deren Bedeutung sich dabei auch signifikant erweitert hat.

Das gilt zum Beispiel für die Psychologie, die Therapie und die Biografiearbeit, in deren Rahmen Geschichten im Sinne wirkmächtiger Konstrukte, an denen man Zeit seines Lebens arbeitet, längst einen festen Platz haben. Sie »bieten für Menschen das zentrale Ordnungsmuster, das sie ihr Leben als ein kohärentes Ganzes erfahren lässt. Ohne eine solche Ordnung bewegen wir uns nur in einem Chaos aus Erfahrungen, psychologisch könnten wir in einer solchen ›bedeutungslosen‹ Welt nicht überleben.«2

Die Forschung über kritische Biografiearbeit hat die tiefere Bedeutung von Geschichten und Erzählungen als eine individuelle Leistung der Sinnkonstruktion freigelegt. Individuelle Geschichten haben einen existentiellen Wert; sie werden fürs Leben und sogar fürs Sterben gebraucht. Denn die Erarbeitung einer ordnenden Geschichte verhilft nicht nur dazu, in der Welt heimisch zu werden, sondern auch, sie zu verlassen. Deshalb gehört zur systemisch beratenden Biografiearbeit auch die unterstützende Abschiedsgestaltung am Ende des Lebens.3

Auch für die Stadtentwicklung und Integration kann Biografiearbeit in Form einer Aufhellung der Geschichte von Stadtteilen und des Austausches von Lebenserfahrungen und Anekdoten eine positive Veränderung bewirken, weil sie gegenseitiges Interesse stimuliert und Anerkennung und Wertschätzung fördert.4 Die Grenze zwischen Alteingesessenen und Dazugekommenen wird dabei fließend.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors