Heft 869, Oktober 2021

Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?

von Aleida Assmann

1998 veröffentlichte der Historiker Eric Hobsbawm eine Sammlung von Essays aus dreißig Jahren. Der Titel seines Buches lautete On History. Der Übersetzer Udo Rennert hat sich für die deutsche Fassung etwas anderes einfallen lassen: »Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?« Die Frage ist gerade hochaktuell, deshalb nehme ich sie hier noch einmal auf. Dabei nehme ich Bezug auf eine Debatte in den deutschen Medien, die vor mehr als einem Jahr begann und noch immer nicht zur Ruhe gekommen ist. Was zunächst wie ein klar umgrenzter Skandal erschien, nämlich die Ausladung eines kamerunischen Historikers von der Ruhr-Triennale, setzte sich fort und wuchs dabei auch bald über die Grenzen dieses Landes hinaus. Freiwillig oder unfreiwillig kamen dabei neue Protagonisten ins Spiel – mit dem Ergebnis, dass die Debatte noch immer anhält und in neuen Konstellationen weitere Mutationen hervorbringt. Wir haben es längst nicht mehr mit einem thematisch klar umrissenen Disput zu tun. Die Erregung breitet sich weiter aus, und ein Ende des Prozesses ist vorerst nicht in Sicht. Nachdem ich mir bereits voreilig einen Rückblick auf die Mbembe-Debatte erlaubt hatte,1 versuche ich nun eine allgemeinere Standortbestimmung, die diese Entwicklung in einen größeren Rahmen einordnet.

Zwei Erinnerungen und zwei Historikerstreite

Diesen Rahmen hat Sebastian Conrad vor kurzem klar umrissen.2 Mithilfe seiner Analyse ist es möglich, einen größeren zeitlichen Überblick über die aktuellen Streitfragen zu gewinnen, diese besser einzuordnen und dabei auch einige Missverständnisse auszuräumen. Conrad unterscheidet zwischen zwei Erinnerungen. »Erinnerung I« steht für eine Entwicklung, die in den 1980er Jahren begann und zur Etablierung der Holocaust-Erinnerung führte. Stationen auf diesem Weg waren die Weizsäcker-Rede 1985, der Historikerstreit 1986, die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht 1995, der Parlamentsbeschluss für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas 1999 und die Gründung einer Internationalen Holocaust-Erinnerungs-Gemeinschaft (IHRA) mit der Stockholm-Erklärung vom 27. Januar 2000 und der Verpflichtung, die Erinnerung an den Holocaust institutionell abzusichern und über die Millenniumsschwelle in die Zukunft zu tragen.

Mit »Erinnerung II« bezieht sich Conrad auf die Erinnerung an Kolonialzeit und Sklavereigeschichte, die noch nicht in gleicher Weise anerkannt und konsolidiert, sondern vorerst noch Gegenstand von Streit und Debatten ist. Es ist aufschlussreich, unsere gegenwärtige Debatte zur Erinnerung II mit der Entwicklung der Erinnerung I im ausgehenden 20. Jahrhundert zu vergleichen, zum einen, weil sich hier, zeitversetzt um eine Generation, ähnliche Prozesse abspielen, und zum anderen, weil die eine Erinnerung entweder der anderen zum Vorbild dienen könnte oder ihr möglicherweise im Weg steht.

Eine interessante Parallele zwischen der Erinnerung I an den Holocaust und der Erinnerung II an Sklaverei und Kolonialismus besteht darin, dass sie von zwei Historikerstreiten begleitet werden, die sich gegenseitig spiegeln und kreuzen. Wir erleben gerade eine direkte Wiederaufnahme des ersten Historikerstreits von 1986 mit den Stimmen von Saul Friedländer und Dan Diner. Saul Friedländer war, was nicht mehr alle wissen, der Auslöser des ersten Historikerstreits vor fünfunddreißig Jahren, denn an dessen Anfang stand ein Gespräch zwischen dem Historiker Ernst Nolte und Friedländer. Aus dieser Konfrontation entwickelte sich eine gut dokumentierte öffentliche Auseinandersetzung, an der sich weitere Historiker beteiligten und in der es einen klaren Sieger gab. Friedländers Position wurde damals vor allem durch Jürgen Habermas gestärkt. In diesem ersten Historikerstreit ging es um die Bestätigung der Einzigartigkeit des Holocaust. Dieser von den Medien getragene Konsens wurde zur Grundlage des normativen Rahmens, in dem seither in Deutschland öffentlich über den Holocaust gesprochen wird.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors