Heft 860, Januar 2021

Polarisieren oder solidarisieren?

Ein Rückblick auf die Mbembe-Debatte von Aleida Assmann

Ein Rückblick auf die Mbembe-Debatte

Deutschland hat gegenwärtig ein dramatisches Antisemitismus-Problem. Die Identität der Deutschen ist von der Judenvernichtung, die von Nazideutschland ausgegangen ist, nicht abzulösen. Die historische Verantwortung für dieses Menschheitsverbrechen ist mit einer besonderen Verantwortung für den Staat Israel verbunden. Sie ist Teil der deutschen Staatsräson und zeigt sich in enger Kooperation mit den Menschen in diesem Staat und seinen Institutionen. Dass Juden und Jüdinnen der dritten und vierten Generation nach dem Holocaust wieder in Deutschland leben und hier eine Grundlage für ihre Existenz gefunden haben, grenzt an ein Wunder. Umso erschütternder ist es, dass dieses jüdische Leben in Deutschland inzwischen schon wieder in einer dramatischen Weise gefährdet ist. Das Tragen von Kippas macht Menschen zur Zielscheibe von verbalen und tätlichen Angriffen, jüdische Gemeindeeinrichtungen bedürfen besonderer Sicherheitsmaßnahmen, und schließlich hat der Anschlag in Halle an Jom Kippur 2019, der nur durch eine verschlossene Tür vereitelt wurde, mit einem Schlag alles infrage gestellt, was in diesem Land inzwischen gewachsen und erreicht worden ist. Wir können uns nicht ausruhen, die Verbreitung des Gifts des Antisemitismus in rechten Gruppierungen und im Internet nimmt weiter zu und erfordert ein entschlossenes Handeln der Ordnungskräfte, klare Positionen der Politiker, aber auch die Wachsamkeit der gesamten Zivilgesellschaft.

Die Loyalität für Israel und der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland gegen rechtsextreme Angriffe darf aber nicht auf Kosten der Solidarität mit Palästinensern, Israelis und jüdischen Stimmen in der Welt gehen, die sich für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts und eine gemeinsame Zukunft für beide Nationen einsetzen. Auch das sollte Teil der deutschen Staatsräson sein, denn das palästinensische Trauma der Vertreibung (Nakba) und die daraus resultierende Notlage wurden ebenfalls durch den von Deutschland ausgehenden Holocaust mitverursacht.1 Der Kampf gegen Antisemitismus fordert in diesem Land die Vereinigung aller Kräfte. Leider wird der aber durch einen neuen Antisemitismus-Begriff und eine Debatte gestört, die von dieser wichtigen Aufgabe ablenkt, die Gemüter verwirrt und die falschen Gegner ins Visier nimmt.

BDS

Um die Hintergründe dieser Debatte etwas auszuleuchten, müssen wir auf zwei Bündnisse näher eingehen, die in der deutschen Gesellschaft bisher kaum bekannt waren, inzwischen in der Öffentlichkeit aber eine besondere Prominenz gewonnen haben. Das erste Bündnis präsentiert sich unter dem Kürzel »BDS«. Die drei Buchstaben stehen für ein 2005 gegründetes Bündnis für Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen (Boycott, Divestment and Sanctions). Bei diesem Zusammenschluss von über 170 Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft handelt es sich um eine Bewegung des gewaltlosen politischen Widerstands gegen die fortschreitende Besetzung der palästinensischen Gebiete durch den israelischen Staat. Der Vorwurf richtet sich gegen den Bruch internationalen Rechts und der universalen Prinzipien der Menschenrechte im Rahmen der Siedlungs- und Besatzungspolitik.

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