Heft 877, Juni 2022

Der Krieg in den Knochen

Christiane Hoffmanns Familiengeschichte »Alles, was wir nicht erinnern« von Aleida Assmann

Christiane Hoffmanns Familiengeschichte »Alles, was wir nicht erinnern«

Mit diesem Buch hatte ich nicht gerechnet. Christiane Hoffmann hat soeben die Erinnerung ihrer Familie für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet.1 Ist denn die Fluchtgeschichte deutscher Familien um 1945 noch ein Thema? Es wurde doch unmittelbar nach dem Krieg ausführlich behandelt, dann trat es einige Jahrzehnte in den Hintergrund und hatte durch Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang nach 2002 eine zweite Konjunktur. Es gab wichtige literarische Texte zum Thema, historische Forschung, mediale Aufbereitung und zwei große Ausstellungen in Bonn und Berlin. All das mündete 2021 in das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Damit hat das Thema »Flucht« auf der Berliner Erinnerungsmeile ein sichtbares Zeichen bekommen, und dieses Zeichen ist auf Versöhnung ausgerichtet. Es schien dort nicht nur gut aufgehoben, sondern auch erledigt zu sein.

Krieg und Frieden

Ich habe mich getäuscht, aber auch etwas Neues dazugelernt. Wie man Geschichte erlebt und beurteilt, das hängt unmittelbar von den prägenden historischen Ereignissen ab, die man selbst erlebt hat. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und kriegsschadensfrei aufgewachsen, während mein Mann und meine Geschwister Kriegskinder sind, denen der Krieg in den Knochen steckt. Christiane Hoffmann beschreibt in ihrem Buch, wie auch ihr, die zwei Jahrzehnte nach mir geboren ist, der Krieg noch in den Knochen steckt. Obwohl Mitglied der dritten Generation, schreibt sie ihr Buch aus der Perspektive eines Kriegskinds, sie beschreibt die Nachwirkungen, die die Fluchtgeschichte ihres damals neunjährigen Vaters bei ihr in Gang gesetzt hat.

Christiane Hoffmanns Biografie setzt lange, bevor sie auf die Welt kam, ein: am 22. Januar 1945, dem Tag, als die Flucht der Familie begann. Meine Biografie begann ebenfalls, bevor ich geboren wurde: am 8. Mai 1945, als der Krieg durch die Kapitulation Nazideutschlands beendet wurde. Christiane Hoffmann schreibt ihre Biografie aus einer verdrängten und vergessenen Leidensgeschichte heraus, ich schreibe sie vom Sieg der Alliierten her, die die Deutschen von sich selbst befreiten.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors