Der Krieg in den Knochen
Christiane Hoffmanns Familiengeschichte »Alles, was wir nicht erinnern« von Aleida AssmannChristiane Hoffmanns Familiengeschichte »Alles, was wir nicht erinnern«
Mit diesem Buch hatte ich nicht gerechnet. Christiane Hoffmann hat soeben die Erinnerung ihrer Familie für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet. Ist denn die Fluchtgeschichte deutscher Familien um 1945 noch ein Thema? Es wurde doch unmittelbar nach dem Krieg ausführlich behandelt, dann trat es einige Jahrzehnte in den Hintergrund und hatte durch Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang nach 2002 eine zweite Konjunktur. Es gab wichtige literarische Texte zum Thema, historische Forschung, mediale Aufbereitung und zwei große Ausstellungen in Bonn und Berlin. All das mündete 2021 in das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Damit hat das Thema »Flucht« auf der Berliner Erinnerungsmeile ein sichtbares Zeichen bekommen, und dieses Zeichen ist auf Versöhnung ausgerichtet. Es schien dort nicht nur gut aufgehoben, sondern auch erledigt zu sein.
Krieg und Frieden
Ich habe mich getäuscht, aber auch etwas Neues dazugelernt. Wie man Geschichte erlebt und beurteilt, das hängt unmittelbar von den prägenden historischen Ereignissen ab, die man selbst erlebt hat. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und kriegsschadensfrei aufgewachsen, während mein Mann und meine Geschwister Kriegskinder sind, denen der Krieg in den Knochen steckt. Christiane Hoffmann beschreibt in ihrem Buch, wie auch ihr, die zwei Jahrzehnte nach mir geboren ist, der Krieg noch in den Knochen steckt. Obwohl Mitglied der dritten Generation, schreibt sie ihr Buch aus der Perspektive eines Kriegskinds, sie beschreibt die Nachwirkungen, die die Fluchtgeschichte ihres damals neunjährigen Vaters bei ihr in Gang gesetzt hat.
Christiane Hoffmanns Biografie setzt lange, bevor sie auf die Welt kam, ein: am 22. Januar 1945, dem Tag, als die Flucht der Familie begann. Meine Biografie begann ebenfalls, bevor ich geboren wurde: am 8. Mai 1945, als der Krieg durch die Kapitulation Nazideutschlands beendet wurde. Christiane Hoffmann schreibt ihre Biografie aus einer verdrängten und vergessenen Leidensgeschichte heraus, ich schreibe sie vom Sieg der Alliierten her, die die Deutschen von sich selbst befreiten.
Wir verkörpern damit zwei unterschiedliche Narrative, eins des Friedens und eins des Krieges. Das Narrativ des Friedens, das die Alliierten vorgaben, setzte auf Vergessen. Vergessen war eine Überlebensstrategie, die darin bestand, den Schmerz einzukapseln, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich ganz auf das Versprechen einer besseren Zukunft einzustellen. Dieses Narrativ wurde 1985 zeitgleich mit dem Bekenntnis zu einer deutschen Holocaust-Erinnerung durch Richard von Weizsäcker noch einmal erneuert. Hoffmanns Buch thematisiert, was mit Übernahme des Friedensnarrativs alles vergessen wurde und emotional unter den Tisch fallen musste. Dass es zu einem Zeitpunkt erscheint, wo nach einer fast siebenundsiebzigjährigen Friedensära die Realität eines brutalen Angriffskriegs wieder Jedermann vor Augen steht, war nicht eingeplant. Aber angesichts der täglichen Bilder von Krieg und Flucht liest sich Hoffmanns Buch unweigerlich auch wie ein unheimliches Déjà-vu.
Verlust der Heimat
Der Verlust spielt in dem Buch auf mehreren Ebenen eine Hauptrolle. Am Anfang steht der Verlust der Heimat einer deutschen Familie, die seit 1238 in Niederschlesien lebte, bis sie 1945 von dort fliehen musste. Ein Satz wie: »Damals gehörte das alles zu Deutschland« kann heute jedoch nicht mehr ausgesprochen werden, weil er im neuen Europa sofort unter Revisionismusverdacht steht. Hoffmann wendet sich auf eine ganz andere Weise einer langen Geschichte zu, die in unterschiedliche nationale Geschichten aufgespalten und zersplittert ist. Mit dieser Zersplitterung wird die Geschichte jedoch auf das jeweils Passende zurechtgestutzt und als politische Waffe eingesetzt.
Die Autorin vergleicht Landkarten und verfolgt im Detail die mehrfach verschobenen Grenzen. Es geht ihr dabei darum, diese lange Geschichte rückblickend als eine gemeinsame zu rekonstruieren. Ihr Ausgangspunkt lautet: »Es gibt keine gemeinsame Geschichte, keine gemeinsame Perspektive, jeder erzählt Seins den Seinen, historische Monologe, Deutsche und Polen mit dem Rücken zueinander, und das Unsagbare bleibt unsagbar, auch nach 75 Jahren.« Solange sich daran nichts ändert, bleibt Geschichte nationalistisch und explosiv. Mit ihrem Buch arbeitet die Journalistin an der Entschärfung dieser Munition. Sie sammelt private und historische Dokumente, sucht nach Zeitzeugen und führt Interviews mit Menschen, die sie in polnischen und tschechischen Dörfern trifft. Sie hört vor allem zu und gibt unterschiedlichen Perspektiven Raum.
Der Verlust der Heimat konkretisiert sich in dem Anwesen Nr. 84 in dem kleinen Dorf Rosenthal /Różyna. Es besteht aus Haupthaus und Auszughaus, Stall und Scheune. Nach der Flucht der deutschen Familien zogen nach dem Krieg durch »Umfüllen«, wie die Autorin dies nennt, polnische Flüchtlinge in die verlassenen Häuser ein. Auch später fielen die Gebäude nicht dem Abriss oder der Modernisierung zum Opfer. Sie bildeten eine Enklave der Vergangenheit, in die die Familie zu wiederholten Besuchen zurückreisen konnte. Der Verlust der Heimat bezieht sich dabei nicht nur auf den Ort und den materiellen Besitz, sondern vor allem auf Gefühle wie die Verbundenheit mit den Vorfahren, deren Grabsteine nicht mehr zu finden sind, und auf die Landschaft, auf Erzählungen, auf Mohnkuchen, Sehnsucht und Trauer.
Die Trauer- und Erinnerungsarbeit Christiane Hoffmanns besteht vor allem darin, Kontakte herzustellen. Sie wird gastfreundlich aufgenommen in dem Haus, das ihr Großvater gebaut hat. Sie spricht mit einer jungen polnischen Mutter über Alltagsprobleme und den Krieg. »Wir sitzen im Hof unter dem Holzdach und sprechen über unsere Großväter, die den Drachen gesehen haben, zwei Nachfahrinnen, verbunden durch das verfluchte zwanzigste Jahrhundert […] Und mit der Zeit beginnt sie zu verstehen, warum ich hier bin. Und ich auch.« Die Autorin versteht sich in dem Maß, wie sie von ihrer Gesprächspartnerin verstanden wird. Sie erkennt in der polnischen Großmutter Stasia ihre eigene Großmutter und stellt ihre Fragen »in gebrochenem Polnisch, Kinderpolnisch, um zu verstehen, was Heimat bedeutet und Heimatverlust, wie eine Blinde, die sich ein Gemälde beschreiben läßt«. Wer den Krieg in den Knochen hat, weiß, was ein nachhaltiger Frieden braucht: persönliche Kontakte und Nachbarschaften, wo Hass und Misstrauen abgebaut werden und zwischenmenschliches Vertrauen wachsen kann.
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