Brasilianische Interventionen
Über Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie von Timo LuksÜber Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie
Es ist noch nicht allzu lange her, da galt Brasilien hierzulande als sozial- und wirtschaftspolitisches, vielleicht sogar als kulturelles Gegenmodell zum neoliberalen Westen. Die brasilianische Partido dos Trabalhadores war so etwas wie the real social democracy des beginnenden 21. Jahrhunderts und Porto Alegre mit dem Weltsozialforum die inoffizielle Hauptstadt der gleichermaßen globalen wie globalisierungskritischen Linken. Das ist vorbei. Inzwischen steht Brasilien für Staatsstreich, politische Justiz und Protofaschismus. Nachrichten aus Brasilien aktualisieren immer wieder den Zusammenhang von ökologischer Katastrophe und »Ethnozid« (Pierre Clastres). Unterstützt von einer dienstbaren Politik zerstören Agrar-, Bergbau-, Holzwirtschafts- und Petroleumkonzerne nicht nur das Ökosystem Amazoniens, sondern damit auch die Lebensräume und Lebensweisen indigener Bevölkerungen. Der Widerstand nimmt freilich auch zu.1
Brasilien ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken, vielleicht vor allem deshalb, weil sich an »unserem« Amazonas ökologische, soziale, politische, kulturelle Hoffnungen und Katastrophen überlagern. Eine Reihe jüngerer Veröffentlichungen – allesamt Übersetzungen aus dem brasilianischen Portugiesisch – schickt sich nun aber an, unser Bild von Brasilien produktiv zu irritieren. Diese Interventionen erzählen Geschichten von Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie. Sie hinterfragen eingeübte Konzepte des Zusammenlebens sowie der (Selbst)Verortung des Menschen in der Welt, und sie machen uns mit Kosmologien jenseits des westlichen Paradigmas der Produktion vertraut.
Angesichts ökologischer Weltuntergänge im Anthropozän ist das natürlich reizvoll. Die Offenheit für brasilianische Interventionen hat etwas mit der Ahnung zu tun, dass die Zerstörungen, die heute die gesamte Welt bedrohen, jenen ähneln, denen sich die indigenen Völker Amazoniens seit langem ausgesetzt sehen – Völker, die im Namen der Zivilisation und des Fortschritts, im Namen der Entwicklung und der Inklusion in die liberale Weltgesellschaft zum Verschwinden verurteilt worden waren.
Brasilianisierung des Westens
Als Ulrich Beck im Rahmen der Expo 2000 über die Zukunft der Arbeitswelt nachdachte, fasste er diese unter dem Schlagwort der Brasilianisierung des Westens zusammen. Er sah darin eine »ungewollte Folge der neoliberalen Utopie des freien Marktes«, die sich vor allem an einer Annäherung der Formen von Erwerbsarbeit in »erster« und »dritter« Welt zeige. Beck ging es um die Ausbreitung vielfältiger, unübersichtlicher und unsicherer Arbeits-, Biografie- und Lebensformen des Südens und den »Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft«. Brasilien war sein Beispiel.
Lohnabhängige Beschäftigte in formalisierten und abgesicherten Arbeitsverhältnissen repräsentierten dort eine Minderheit der wirtschaftlich Tätigen. Die Mehrheit verdinge sich als Dienstleister, Verkäufer, Kleinhändler, Handwerker usw. Es handle sich um Arbeitsnomaden, die zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern und Beschäftigungsformen hin und her pendelten. Beck erkannte darin »eine sich rapide ausbreitende Entwicklungsvariante später Arbeitsgesellschaften des Westens, denen die attraktive, hochqualifizierte und gutbezahlte Vollerwerbstätigkeit ausgeht«.2 Die Brasilianisierungs-These setzte aber noch einen weiteren Akzent. Beck verwies hier auf Überlegungen des Politikwissenschaftlers Michael Lind, der in der US-amerikanischen Gesellschaft der neunziger Jahre ebenfalls Brasilianisierungs-Tendenzen entdeckt hatte und damit eine extreme Klassenspaltung auf der Grundlage ethnischer Zuschreibungen meinte.
Europas – wohl wenig verheißungsvolle – Zukunft sollte also in Brasilien besichtigt werden können. Brasilien war ein willkürliches Beispiel, ein Platzhalter für den globalen Süden und die »Länder der sogenannten Vormoderne«. Das zeigt sich daran, wie Ulrich Beck nonchalant statistische Daten zu verschiedenen lateinamerikanischen Ländern pauschal referiert und nicht davor zurückschreckt, seinen brasilianischen Idealtypus informeller, multiaktiver Arbeit mit mexikanischen Beispielen zu illustrieren. Auch wenn er das nicht wahrhaben wollte: Sein Vorgehen ist Stereotypisierung in actu. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass er das postkoloniale Schlagwort »divergenter Modernen« (Shalini Randeria) bemüht und die These der Brasilianisierung des Westens gegen einen Universalismus in Stellung bringt, der die Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft westlichen Typs als allgemeines Ideal und historisches Telos auffasst. Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsgegensätze seien nicht länger evolutionär aufzulösen oder in ein einfaches Schema von Zentrum und Peripherie einzuordnen. Becks These verweist auf die »Umkehrung der prognostischen Aussagekraft von Gesellschaftsbildern«. Schienen früher die Länder des globalen Südens im westlichen Spiegel ihre Zukunft (und der Westen im südlichen Spiegel seine Vergangenheit) erblicken zu können, so sei es heute umgekehrt.
Bei Ulrich Beck findet sich nichts von dem, was die gegenwärtige »Brasilianisierung« der Theorie kennzeichnet. Anstelle einer Bereitschaft, eigene Konzepte der Weltbeschreibung irritieren zu lassen, begnügt er sich mit der Globalisierung der soziologischen Kategorien westlicher Arbeitsgesellschaften. Welche Konzepte brasilianische Theoretikerinnen und Theoretiker entwickeln, um Arbeitsweisen oder Formen des Zusammenlebens zu beschreiben – das interessiert ihn nicht. Zur Belebung der theoretischen Vorstellungskraft taugt seine »flockige« Skizze der Arbeitswelt eines metaphorischen Brasilien nicht. Das mag der Grund sein, weshalb das Schlagwort der Brasilianisierung des Westens schnell in der Versenkung verschwand und die Beck’sche Fassung einer Weltgesellschaft heute so antiquiert wirkt. Ihr fehlt es schlichtweg an »Welt«. Wo niemand durcheinander redet, da droht das Selbstgespräch.
Brasilianisierung der Theorie
Es hat sicher etwas mit »Theoriehunger« (Philipp Felsch) zu tun, dass sich seit zwei oder drei Jahren eine Brasilianisierung der Theorie andeutet. Der Hunger mag, anders als in den langen siebziger Jahren, kein Massenphänomen mehr sein. Eine bestimmte Klientel verspürt ihn aber nach wie vor. Nun ist freilich selbst die letzte Generation der French Theory in die Jahre gekommen; und über die auf einer bekannten Karikatur von 1967 zum »strukturalistischen Frühstück« versammelten Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Lacan und Claude Lévi-Strauss (sowie den damals nicht eingeladenen Jacques Derrida) lässt sich inzwischen nur noch im Modus der Historisierung reden. Da kommen brasilianische Theorieinterventionen gerade recht, zumal dann, wenn sie Ungelesenes mit Wiedererkennungswert versprechen. Etwas kurzschlüssig: Wer bisher französische Theorie las, der oder die liest nun brasilianische Theorie, die immer auch französische Theorie gelesen hat und bestimmte Fragen in verschobener Perspektive zurückspiegelt.
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