Heft 849, Februar 2020

Brasilianische Interventionen

Über Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie von Timo Luks

Über Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie

Es ist noch nicht allzu lange her, da galt Brasilien hierzulande als sozial- und wirtschaftspolitisches, vielleicht sogar als kulturelles Gegenmodell zum neoliberalen Westen. Die brasilianische Partido dos Trabalhadores war so etwas wie the real social democracy des beginnenden 21. Jahrhunderts und Porto Alegre mit dem Weltsozialforum die inoffizielle Hauptstadt der gleichermaßen globalen wie globalisierungskritischen Linken. Das ist vorbei. Inzwischen steht Brasilien für Staatsstreich, politische Justiz und Protofaschismus. Nachrichten aus Brasilien aktualisieren immer wieder den Zusammenhang von ökologischer Katastrophe und »Ethnozid« (Pierre Clastres). Unterstützt von einer dienstbaren Politik zerstören Agrar-, Bergbau-, Holzwirtschafts- und Petroleumkonzerne nicht nur das Ökosystem Amazoniens, sondern damit auch die Lebensräume und Lebensweisen indigener Bevölkerungen. Der Widerstand nimmt freilich auch zu.1

Brasilien ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken, vielleicht vor allem deshalb, weil sich an »unserem« Amazonas ökologische, soziale, politische, kulturelle Hoffnungen und Katastrophen überlagern. Eine Reihe jüngerer Veröffentlichungen – allesamt Übersetzungen aus dem brasilianischen Portugiesisch – schickt sich nun aber an, unser Bild von Brasilien produktiv zu irritieren. Diese Interventionen erzählen Geschichten von Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie. Sie hinterfragen eingeübte Konzepte des Zusammenlebens sowie der (Selbst)Verortung des Menschen in der Welt, und sie machen uns mit Kosmologien jenseits des westlichen Paradigmas der Produktion vertraut.

Angesichts ökologischer Weltuntergänge im Anthropozän ist das natürlich reizvoll. Die Offenheit für brasilianische Interventionen hat etwas mit der Ahnung zu tun, dass die Zerstörungen, die heute die gesamte Welt bedrohen, jenen ähneln, denen sich die indigenen Völker Amazoniens seit langem ausgesetzt sehen – Völker, die im Namen der Zivilisation und des Fortschritts, im Namen der Entwicklung und der Inklusion in die liberale Weltgesellschaft zum Verschwinden verurteilt worden waren.

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