Heft 844, September 2019

Die Bewerbung

Eine Kulturtechnik des 19. Jahrhunderts von Timo Luks

Eine Kulturtechnik des 19. Jahrhunderts

Kaum etwas ist uns heute so selbstverständlich wie die Anforderung, Bereitschaft, Erwartung, Fähigkeit, Notwendigkeit und Zumutung, sich zu bewerben. Obwohl es sich bei der Bewerbung offenkundig um eine fundamentale Kulturtechnik der modernen Arbeitsgesellschaft handelt, obwohl also mehr oder weniger alle Angehörigen dieser Gesellschaft über ein bestimmtes Maß an Bewerbungswissen und eine gewisse bewerbungspraktische Geübtheit verfügen (sollen und müssen), wurde ihrer Entstehung bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Bestenfalls finden sich hier und da journalistische Erkundungen der »Bewerbungswüste« der jüngsten Zeit. Darin wird das Bild einer absurden »Übergangsindustrie« gezeichnet, in der Gurus und Coaches eine Menge Geld verdienen und die Stellensuche zu einer »komplexen Technik, wenn nicht gar Wissenschaft geworden« ist. Gegenüber den damit verbundenen Exzessen lässt sich die gute alte Zeit beschwören, in der es ausreichte, »die Stellenanzeigen eingehend zu studieren und Bewerbungsunterlagen zu versenden, um dann auf Anrufe zu warten«.1 Selbst in ihrer einfachen Form ist die Bewerbung allerdings eine voraussetzungsvolle Kulturtechnik mit einer aufschlussreichen Entstehungsgeschichte. Dieser Geschichte nachzugehen mag helfen, eine vermeintliche Selbstverständlichkeit moderner Arbeitsgesellschaften zu problematisieren – und zu verstehen, was wir warum tun, wenn wir uns bewerben.

Wie andere Kulturtechniken auch ermöglicht die Bewerbung »eine reflexive Rückbesinnung auf kulturelle Praktiken, aus denen die technischen Apparate, Instrumente und Artefakte der Kultur hervorgegangen sind«.2 Sie bringt Ratgebermedien und institutionelle Arrangements, etwa der Arbeitsvermittlung und Berufsberatung, hervor. Und natürlich vermittelt sie ein habitualisiertes Können. Im Akt der Bewerbung wird das moderne Subjekt zum Arbeitssuchenden, also zu jemandem, der willens und auch in der Lage ist, sich mittels eigenverantwortlicher und selbsttätiger Positionierung auf einem Arbeitsmarkt ein Ein- und Auskommen zu sichern. Die Bewerbung wirkt als Instrument der arbeitsmarktbezogenen Prüfung und Präsentation der eigenen Fähigkeiten und der eigenen Persönlichkeit. Sie modelliert eine Biografie in Form des Lebenslaufs als Kette aufeinander folgender, bisheriger und projektierter zukünftiger Beschäftigungen. Durch äußere Umstände – die Sorge um ein Ein- und Auskommen – veranlasst, aber dennoch freiwillig, gibt hier jemand, der es ansonsten vielleicht nicht getan hätte, Auskunft über sich. Diese Auskunft wiederum ist Ergebnis vielfältiger Formatierungs- und Übersetzungsleistungen, taktischer und strategischer Überlegungen sowie subtiler Erwartungen und Erwartungserwartungen.

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