Heft 895, Dezember 2023

Zwecklose Zweckmäßigkeit

Zur Geschichte der Logistik von Timo Luks

Zur Geschichte der Logistik

Weit ab von einer Beschäftigung mit Containern, Frachtpapieren, Lagerhallen, Paletten und dergleichen legten die exilierten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 eine überraschende Spur: »Auf dem Weg von der Mythologie zur Logistik hat Denken das Element der Reflexion auf sich verloren, und die Maschinerie verstümmelt die Menschen heute, selbst wenn sie sie ernährt.« Der Begriff »Logistik« fungiert hier in Form eines Bonmots als Fluchtpunkt jenes geistesgeschichtlichen Vorgangs, den die Dialektik der Aufklärung düster rekonstruiert. »Nicht auf jene Befriedigung, die den Menschen Wahrheit heiße, sondern auf ›operation‹, das wirksame Verfahren, komme es an«, so präzisieren Horkheimer und Adorno. Damit werde »Vernunft selbst zum bloßen Hilfsmittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur«, reduziert auf Versachlichung und Formalismus. Sie sei »das Organ der Kalkulation, des Plans, gegen Ziele ist sie neutral, ihr Element ist die Koordination«. Vernunft sei »zur zwecklosen Zweckmäßigkeit geworden, die eben deshalb sich in alle Zwecke spannen läßt. Sie ist der Plan an sich betrachtet.«

Horkheimers und Adornos Begriffswahl ist überraschend. Widmet man sich der Geschichte der Logistik, ist sie allerdings auch bezeichnend. Die Historikerin Monika Dommann zeigt in ihrer Studie zum Thema nämlich auf, dass die Logistik unter anderem aus kriegswissenschaftlichen Diskursen hervorging, die bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückreichen, in Großbritannien und den USA dann aber vor allem während des Zweiten Weltkriegs als »operations research« systematisch vorangetrieben wurden. Das mit Blick auf das Problemfeld der Logistik verwendete Vokabular, so Dommann, »trägt sowohl militärische als auch philosophische, mathematische und sozialwissenschaftliche Bedeutungsschichten in sich. Es entstand im Kontext der amerikanischen Militär- und Kriegswissenschaft und diffundierte nach dem Zweiten Weltkrieg von einem militärischen Begriff in eine allgemeine betriebswirtschaftliche Organisationstheorie.« Nachschubökonomie im Krieg, ingenieurswissenschaftliche Rationalisierungsdiskurse, Kapitalismus und industrielle Massenproduktion – diese Konstellation machte es für Horkheimer und Adorno wohl intuitiv plausibel, »Logistik« und »operation« in die Dialektik der Aufklärung hineinzuschreiben.

Dazu passt, dass Monika Dommann eine weitere Begriffswurzel rekonstruiert: eine mathematisch-formallogische, die Logistik als formalisierte »Operation« fasst und mit den Arbeiten Oskar Morgensterns, einem der Mitbegründer der Spieltheorie, verbunden ist. Die Spieltheorie war attraktiv, weil sich mit ihr komplexe Situationen auf formale Typen redu-zieren und mathematisch beschreiben ließen. Einer kurzen Phase militärischer Anwendung während des Zweiten Weltkriegs folgte daher auch ihr temporärer Aufstieg zur Blaupause der Sozialwissenschaften.

Als der Logistikbegriff um 1960 im betriebswissenschaftlichen Mainstream angekommen war, handelte es sich um eine Melange aus militärischer »operations research«, Managementlehren und Informationstheorie. Nach Dommann ist Logistik »einerseits eine Ingenieurswissenschaft, die Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entwicklung von Transporttechniken und Beförderungsmitteln zur Distribution von Warenmassen entstand. Doch Logistik ist auch ein Bündel diverser Wissensbestände, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Austauschbeziehungen zwischen dem Transportwesen, der Industrie, dem Militär und der Wissenschaft entwickelten und die mit der Kontrolle, Steuerung, Formalisierung, Standardisierung und visuellen Repräsentation von Materialflüssen beschäftigt sind.« In dieser Perspektive wird aus einem auf den ersten Blick randständigen Thema der Schlüssel zum Verständnis eines spezifisch modernen Denkstils und darüber hinaus des globalen Kapitalismus.

Fließende Ordnung und die Orte des Stillstands

In einer Welt der Warenzirkulation und des Güterverkehrs ist Stillstand die ultimative Bedrohung. Je reibungsloser der Warenverkehr funktioniert, desto diskreter laufen logistische Prozesse ab. Als komplexes und voraussetzungsvolles System wird Logistik nur dann sichtbar, wenn es irgendwo hakt. Daher wendet auch Monika Dommann in ihrer Studie einen »epistemischen Trick« an: »Denn die Materialflüsse lassen sich historisch am besten an den Orten ihres temporären Stillstandes untersuchen. Da, wo Waren, Rohstoffe und Halbfabrikate gelagert und umgeladen werden. Da, wo sie stranden oder ihren Bestimmungsort verpassen. Da, wo sie bewertet, gestapelt, getaggt und mit Zeichen versehen werden. Aber auch da, wo der Materialfluss zuallererst mathematisch modelliert, graphisch skizziert, als Filmsequenz inszeniert und in Arbeitsorganisationen integriert wird.«

Die Geschichte der Logistik zeigt, welche Bedeutung Vorstellungen fließender Ordnung und kanalisierter Dynamik in der Moderne hatten und haben. Als »Logistik« 1917 erstmals zur buchtitelgebenden Vokabel aufstieg, und zwar in der Abhandlung des Lieutenants der US-Marine George Thorpe, war der Bezug zu Fragen tayloristischer Betriebsführung sofort präsent. Frederick Winslow Taylors The Principles of Scientific Management war 1911 erschienen und nach dem Krieg zur Blaupause für Betriebsingenieure geworden, die sich gezwungen sahen, über die mit Fließband und Materialfluss verbundenen Herausforderungen für die betriebliche Ordnung nachzudenken.

Für die Geschichte der Fabriken wurde wiederholt analysiert, wie die Inszenierung einer spezifischen Architektur als bauliche Verkörperung von (technischer) Modernität fungierte. Produktionsingenieure und Architekten entwickelten seit dem frühen 20. Jahrhundert die Idee einer rational factory, in der nichts hakte und nichts stockte, deren interne Abläufe ebenso reibungslos gestaltet sein sollten wie ihre Anbindung an das Verkehrsnetz und den Markt. »Flow« meinte in diesem Kontext zunächst den Materialdurchlauf in der Fabrik, dann aber auch stets weiter ausgreifende Bewegungen und Verkettungen.

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