Heft 870, November 2021

Der Berufsälteste in New York

Alte Texte von Claude Lévi-Strauss neu versammelt von Timo Luks

Alte Texte von Claude Lévi-Strauss neu versammelt

Selbst wenn ein berühmter Name auf dem Buchdeckel steht, lastet auf Textsammlungen offenbar ein erheblicher Rechtfertigungsdruck. So mag sich der Aufwand erklären, den Vincent Debaene, der Herausgeber von Strukturale Anthropologie Zero, in seinem hervorragenden Vorwort betreibt, um Leserinnen und Leser von einer Sammlung früher Aufsätze von Claude Lévi-Strauss zu überzeugen.1 Der Band versammelt Texte aus der New Yorker Zeit (1941–1947) des anthropologischen »Berufsältesten« (Eduardo Viveiros de Castro) und kokettiert bereits im Titel damit, ein Prequel zu Lévi-Strauss’ zweibändiger Strukturaler Anthropologie (1958/1973) zu sein. Die nun abgedruckten, mehrheitlich zuerst in englischer Sprache und in teilweise etwas entlegenen Zeitschriften und Sammelbänden erschienenen Texte hatte Lévi-Strauss nicht in Strukturale Anthropologie I aufgenommen, weil sie, so die Erklärung im damaligen Vorwort, rein ethnografisch-beschreibenden Charakter hatten oder in ihrer theoretischen Substanz in Traurige Tropen (1955) aufgegangen waren.

Debaene lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kollateralschäden dieser Auswahlpraxis. Es gebe, so schreibt er, »einen Verlust, den der vorliegende Band wieder wettmachen möchte«, weil »Lévi-Strauss Artikel ausklammerte, die sich zwar in die von der Strukturalen Anthropologie entworfene Marschroute nicht integrieren ließen, aber eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Überlegungen spielten, die abseits des Strukturalismus geführt wurden.« Die Erfolgsgeschichte des Strukturalismus, so Debaenes pointierte Formulierung, sei »möglich geworden durch eine Arbeit der Rekonstruktion, der Auswahl und des ›Vergessens‹ bestimmter reflexiver Dimensionen durch Lévi-Strauss selbst.« Das betrifft etwa einen Beitrag zur Stellung des Häuptlings bei den Nambikwara, dessen Argumente später von Pierre Clastres aufgegriffen wurden, während Lévi-Strauss sich kaum noch Fragen der politischen Anthropologie widmete.

Die New Yorker Texte des Berufsältesten sind ein Beitrag zum Verständnis der Urgeschichte des Strukturalismus, dem Lévi-Strauss in Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (geschrieben 1947 in New York, veröffentlicht 1949 in Paris) monumentale Gestalt verlieh – ein »amerikanisches Buch« (Lévi-Strauss), das ohne die Bestände der New York Public Library und ohne die freien Nachmittage als französischer Kulturattaché nicht hätte realisiert werden können. Strukturale Anthropologie Zero führt mitten in die Entstehungsgeschichte dieses Buchs, wie Maurice Godelier mit Blick auf einige der darin versammelten Arbeiten gezeigt hat.2

Darüber hinaus liegt die Bedeutung des Bandes darin, dass er, wenn man eine gewisse geografische Großzügigkeit zulässt, die Konturen eines französisch-frankophonen Atlantiks offenlegt. Innerhalb dieser Konstellation kam dem Exil französischer Intellektueller in New York während des Zweiten Weltkriegs, unter ihnen Claude Lévi-Strauss, eine Scharnierfunktion zu.

New York und der französisch-frankophone Atlantik

Mit der Kriegsniederlage und der Etablierung des Vichy-Regimes befanden sich zahlreiche französische Intellektuelle, aber auch deutsche, österreichische oder tschechische Flüchtlinge, die in Frankreich gestrandet waren, in einer prekären Lage. Für die einen zeichnete sich die Notwendigkeit einer zweiten Flucht ab, während die anderen vor der Frage standen, ob sie ihr Heimatland verlassen sollten. Die rasch erlassenen »Rassengesetze« beschränkten die Spielräume erheblich. Noch im Sommer 1940 war Claude Lévi-Strauss »in völliger Ahnungslosigkeit nach Vichy gegangen« und hatte darum ersucht, die ihm bereits zugewiesene Stelle am Lycée Henri IV antreten zu dürfen – nur um von einem Beamten zu erfahren, »daß er es ablehnte, mich mit dem Namen, den ich trug, nach Paris zu schicken«.3 Die Stelle, die er stattdessen antrat, verlor er wenige Wochen später. Im März 1941 verließ er Frankreich im Rahmen des Rettungsprogramms der Rockefeller-Stiftung. Die französische und internationale »Proto-Résistance« (Emmanuelle Loyer), die sich in Marseille versammelt hatte, fand sich im Exil in New York wieder.

Lévi-Strauss hat die Überfahrt in den Traurigen Tropen (1955) in Form eines melancholischen Abgesangs auf eine ältere Kultur der Reise literarisch verarbeitet. Im Rückblick auf seine Forschungsreise im Jahr 1935 schrieb er: »Ich wünsche mir heute, ich wäre vor zwanzig Jahren imstande gewesen, den Wert jenes unerhörten, geradezu königlichen Vorrechts gebührend zu ermessen, das darin bestand, daß eine Gruppe von acht bis zehn Passagieren nicht nur über Deck und Kabinen, sondern auch über Rauchsalon und Speisesaal erster Klasse eines Schiffes verfügte, das hundert bis hundertundfünfzig Personen Platz bot.«4 Im Gespräch mit Didier Eribon erinnerte er sich an das Privileg, während der Überfahrt 1941 »ein Bett in einer der beiden einzigen Kabinen benutzen zu dürfen« – während andere Passagiere »in den Frachträumen verstaut wurden«.

Emmanuelle Loyer hat das französische Exil in New York im Detail beschrieben und in den Zusammenhang eines tatsächlichen wie auch imaginären Transatlantismus gerückt.5 Sie macht einen »espace littéraire de l’exil« sichtbar, der sich von Buenos Aires über New York bis nach Montreal erstreckte, einschließlich des Londoner Exils der Gruppe um Charles de Gaulle. In New York verdichtete sich dieser französisch-frankophone Atlantik in personellen Netzwerken, Zeitschriften und Verlagen, aber auch institutionell, etwa in Form der Ecole libre des hautes études, die unter dem Dach der New School for Social Research zum intellektuellen Prestigeprojekt der Gaullisten wie auch zum Geburtsort des Strukturalismus wurde.

Es hat einen gewissen Reiz, diesen Atlantik gedanklich über den Black Atlantic zu legen, der die Aufmerksamkeit auf die Zusammenhänge von Moderne und Kolonialismus, Kapitalismus und Sklaverei sowie die lange Geschichte antikolonialer Kämpfe lenkt – und mit den Arbeiten von C. L. R. James und Eric Williams Gestalt annahm.6 Die atlantischen Exile von Lévi-Strauss und anderen verweisen, bei allen Unterschieden, vielleicht auch auf die Diaspora karibischer und afrikanischer Intellektueller im London und Paris der Zwischenkriegszeit.

Ein anderes Amerika

In New York versuchte Lévi-Strauss sich natürlich als teilnehmender Beobachter. Die kleine Ethnologie der US-Gesellschaft, die dabei herauskam, zeigt einen Feldforscher beim Versuch, die eigenen Irritationen, spontanen Abneigungen und Vorurteile in den kontrollierten Rahmen einer vergleichenden Analyse der Regeln und Formen des sozialen Lebens zu überführen. Vor allem interessierte ihn die Stellung des Individuums gegenüber der sozialen Gruppe; ein Thema, das die New Yorker Texte immer wieder aufgreifen. Als einer »jungen« Gesellschaft sei das Gerüst der amerikanischen Gesellschaft immer noch »äußerlich«. Das Individuum verfüge nicht über jenen Spielraum gegenüber den »Sedimentschichten der Kultur«, der für »ältere Formationen« charakteristisch sei.7 Amerika lebe im Unterschied zu Europa, aber auch zu den indigenen Gesellschaften Südamerikas, nach wie vor in »Fremdheit zu sich selbst«. Deshalb sei es nicht verwunderlich, dass beispielsweise eine Anthropologin wie Margaret Mead als Zeitdiagnostikerin Anklang finde.

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